Prosoziales
Verhalten
Das
nächste Motiv, das wir uns vornehmen, hat die Motivationspsychologie
erst in jüngster Zeit entdeckt: das Hilfemotiv, oder allgemeiner
gefaßt: prosoziales Verhalten.
Gibt es das überhaupt? Hat denn nicht jede barmherzige Tat
auch einen Eigennutz? Hilft man nicht anderen nur deshalb, weil
man sich - zumindest langfristig - eine Gegenleistung verspricht?
Oder hilft man nicht der hingefallenen alten Frau nur deshalb wieder
auf, um kein schlechtes Gewissen zu haben - nicht aber aus Fürsorge
um die Frau?
Ja
und Nein. Leider werden die Begriffe prosozial und altruistisch
wenig einheitlich verwendet. Was Motivationspsychologen meinen,
wenn sie von Altruismus sprechen, ist: eine Handlung, die
dem Wohlergehen eines anderen dient, aber nicht mit der Antizipation
eines eigenen äußeren Nutzens verbunden ist. Habe
ich von der Tat nur einen inneren Nutzen - wie in dem obigen Beispiel
die Beruhigung des Gewissens - handelt es sich um Altruismus. Auch
wenn man also "nur" einer allgemeinen Norm folgt ("das
macht man halt so"), ist es eine altruistische Tat. Man befolgt
ja dann, wenn man so will, die altruistische Norm.
Geschieht die Handlung dagegen unter sozialem Druck, d.h. kommt
etwa gerade meine Nachbarin vorbei, als ich mit der gestürzten
Frau konfrontiert bin, dann kann man schon wieder von "äußerem
Nutzen" sprechen, denn ich erwarte mir ja dann einen Vorteil
in der Beziehung zur Nachbarin, wenn ich engagiert helfe... Selbstverständlich
sind die Grenzen hier fließend.
"Altruistisches
Verhalten" meint also meist eher dieses "intrinsisch motivierte"
Helfen, das Helfen um des Helfens willen. (Das Motiv zum altruistischen
Verhalten wollen wir "Hilfemotiv" nennen.) Der Begriff
"prosoziales Verhalten" macht diese Unterscheidung
zwischen subjektiven Beweggründen und äußerem Verhalten
nicht. Er bezieht sich nur auf das Verhalten, sieht also alles,
auch die "eigennützige Hilfeleistung" als prosozial
an. Ähnlich allgemein wird der Begriff der Hilfeleistung
selbst verwendet. Alles klar?
Einflußfaktoren
Unter
welchen Umständen kommt es also zu Hilfeleistungen, und unter
welchen nicht? Ganz allgemein hat sich gezeigt, daß man die
Hilfeleistung von Menschen mittels Kosten-Nutzen-Modellen
recht gut vorhersagen kann. Je größer die subjektive
Erwartung über den eigenen Nutzen der Hilfeleistung ist und
je geringer dessen Kosten sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß
eine Hilfeleistung erfolgt. Befindet sich ein Millionärssohn
in Not, werden sich wohl mehr Menschen um dessen Rettung bemühen,
als wenn es sich um einen Obdachlosen handelt. Den Menschen, der
dem Obdachlosen unter Aufwendung eigener Kosten hilft, sich also
gerade nicht an das Kosten-Nutzen-Modell hält, nennt man gemäß
unserer obigen Definition altruistisch. In diesem Sinne kann die
Tendenz zu Altruismus also auch als Persönlichkeitsdisposition
verstanden werden.
Warum
halten sich - ganz allgemein - manche Menschen in manchen Situationen
nicht an das Kosten-Nutzen-Modell? Wie oben schon angedeutet, spielen
Normen hier eine entscheidende Rolle. Zentral für die
jüdisch-christliche Tradition unserer Gesellschaft ist die
"Norm der sozialen Verantwortlichkeit", sozusagen
die altruistische Norm. Diese besagt, daß man sozial schwächer
gestellten Personen - Arme, Alte, Kranke etc. - helfen sollte. Insbesondere
soll dann geholfen werden, wenn die hilfsbedürftige Person
von für sie nicht zu kontrollierenden Umwelteinflüssen
in diese Notsituation gebracht wurde ("externale Attribution").
In bestimmten Notsituationen ist es sogar die gesetzliche Pflicht
eines Menschen, Hilfe zu leisten, d.h. die Unterlassung der Hilfe
wird bestraft.
Die
Existenz dieser Norm an sich besagt natürlich noch gar nichts.
Je mehr aber eine bestimmte Person diese Norm verinnerlicht, sie
sich also vornimmt einzuhalten, desto größer ist die
Wahrscheinlichkeit der Hilfeleistung auch in ungünstigen Situationen.
(Die objektiv schwache Nutzenseite wird quasi durch die Vermeidung
eines schlechten Gewissens aufgepäppelt, so daß die "subjektive
Kosten-Nutzen-Rechnung" wieder stimmt.)
Die
zweite Norm, die relevant ist für die Hilfeleistung, ist die
- eher wenig altrustische - Norm der Gerechtigkeit (Reziprozität).
"Wie du mir, so ich dir" ist ein nahezu universales Prinzip
im Verhalten zwischen Menschen - im positiven wie im negativen.
Menschen helfen, wenn sie diese Norm verinnerlichen, also vor allem
deshalb, weil sie sich eine Gegenleistung erhoffen bzw. weil sie
bereits eine Gegenleistung erhalten haben. Ob es sich dabei um dieselbe
Person handeln muß, ist fraglich: So funktioniert es in Deutschland
recht gut, daß jeweils die junge Generation der älteren
die Rente bezahlt ("Generationenvertrag"). Eine Gruppe
C hilft also einer Gruppe B, in der Erwartung, später Hilfe
von Gruppe D zu erhalten (und weil die Gruppe B früher Gruppe
A geholfen hat).
Das
Kosten-Nutzen-Modell wird manchmal aber auch in die andere Richtung
ausgehebelt, d.h. trotz geringer Kosten und hohem Nutzen wird nicht
geholfen. Bekannt geworden sind Fälle, in denen es in vollbesetzten
U-Bahnen zu Vergewaltigungen gekommen ist, ohne daß die Fahrgäste
eingegriffen haben. In diesem Fall spricht man "Verantwortungsdiffusion".
In einer Notsituation denkt jeder "Warum soll gerade ich
eingreifen?", so daß im Resultat niemand eingreift. Wenn
die Fahrgäste sehen, daß auch die anderen sich nicht
an den gewalttätigen Vorgängen stören, sind sie eher
geneigt zu glauben, es handele sich nur um ein Spiel, oder allgemein:
es sei gar nicht so schlimm ("pluralistische Ignoranz").
Dies kann vor allem dann geschehen, wenn die betreffende Situation
nicht eindeutig ist, so daß sich niemand durch ein übereiltes
Eingreifen blamieren will.
Welche
Bedingungen entscheiden außerdem noch darüber, ob eine
Person Hilfe leistet oder nicht? Bis jetzt haben wir die subjektive
Kosten-Nutzen-Rechnung, eine Persönlichkeitsdisposition bzw.
verinnerlichte Normen sowie die Anzahl von Verantwortlichen als
Einflußgrößen erwähnt. Als letztes wollen
wir hier noch erwähnen, daß auch die Möglichkeit
einer Person zur Empathie (Einfühlen) in die Lage der
hilfsbedrüftigen Person einen wichtigen Einfluß hat.
Zunächst einmal ist Empathie natürlich
notwendig, um überhaupt die Lage einer Person als hilfsbedürftig
einzuschätzen. In unserem Beispiel (Vergewaltigung in der U-Bahn)
können wir das bei jedem erwachsenen Menschen voraussetzen.
Dennoch erscheint es plausibel anzunehmen, daß besonders diejenigen
bereit sein werden zu helfen, denen die Lage des Opfers vertraut
ist oder die potentiell auch Opfer sein können, in diesem Fall
also primär Frauen.
An diesem Beispiel sind auch recht gut zwei Arten von Einfühlung,
nämlich Opferwahrnehmung und Ereigniswahrnehmung,
zu erläutern. Sehe ich eine Frau, die weint oder schreit, kann
ich sie als Opfer identifizieren und auf ein zugrunde liegendes
Ereignis - die Vergewaltigung - zurückschließen. Sehe
ich dagegen ein Paar, das sich in der U-Bahn sexuell betätigt,
ohne Anhaltspunkte über den psychischen Zustand der Beteiligten
zu haben, kann ich nur schwer erkennen, wie es dem - potentiellen
- Opfer geht und somit kaum Empathie zeigen.
Empirisches
Nach
diesen allgemeinen Überlegungen hier nun - zur Entspannung
- ein paar empirische Befunde.
Welche
Faktoren beeinflussen die Höhe von Spenden?
Wie
nicht anders zu erwarten, hat sich zunächst mal der soziale
Druck als wichtiger Faktor herausgestellt. Ganz konkret: In
der Kirche wird mehr in den offenen Klingelbeutel (der herumgereicht
wird und in den sozial besser "eingesehen" werden kann)
gespendet als am Ausgang in einen anonymen Sammelbehälter.
Außerdem sind soziale Vergleichsvorgabe wichtig. Wenn
in wohltätigen Fernsehshows Spendernamen mit Beträgen
um 10.000 Euro über den Bildschirm laufen, wird wohl kaum jemand
auf die Idee kommen, 100 Euro zu spenden. Alltagserfahrung in vielen
Fußgängerzonen dürfte auch die Aufforderung sein,
freiwillig einen "beliebigen Betrag" für bestimmte
gute Zwecke zu spenden: "Die meisten geben 5 Euro", sagt
dann häufig der Vertreter der guten Sache - und schon sitzt
man in der (Gewissens-)Falle...
Zu guter letzt steigt auch dann der Spendenbetrag, wenn der Hilfesuchende
möglichst genaue Informationen über den Verwendungszweck
angibt. Die Spender werden anscheinend dadurch motiviert, daß
sie das Gefühl haben, einer ganz bestimmten Menschengruppe
ganz konkret zu helfen.
Andere
Studien beschäftigen sich mit der Frage, ob positive oder negative
Modelle das Hilfeverhalten beeinflussen. Sind Autofahrer
eher dazu geneigt, einem liegengebliebenen Verkehrsteilnehmer zu
helfen, wenn sie kurz zuvor am Straßenrand genau ein solches
Hilfeverhalten beobachten konnten? Die Studie von Bryan & Test
(1967) bejaht dies.
Ein
weiteres Thema für empirische Studien ist die Frage, welche
Eigenschaften des Opfers das Hilfeverhalten beeinflussen.
Beispielsweise zeigt sich, daß Männer häufiger als
Frauen helfen. Dies wird meist auf die Rollenerwartung zurückgeführt.
Befriedigend ist diese Erklärung aber nicht, weil Frauen zwar
einerseits die Rolle des eher körperlich schwachen, passiven
Geschlechts innehaben, andererseits aber auch als fürsorglich,
helfend gelten.
Wenig geholfen wird solchen Opfern, die kompetent erscheinen, sich
selbst zu helfen. Andererseits wird auch total passiven Opfern wenig
geholfen; Hilfe erscheint den potentiellen Helfern hier wohl aussichtslos.
Am meisten Aussicht auf Hilfe hat demnach ein Opfer, das schwach
und hilflos erscheint, sich aber aktiv zu helfen versucht.
Wie oben schon angemerkt, erhalten Opfer auch dann eher wenig Hilfe,
wenn sie ihr Unglück in den Augen der potentiell Helfenden
selbst verschuldet haben. Dementsprechend wird im Alltag
oft bei Alkoholabhängigen argumentiert ("selbst schuld!");
bei AIDS-Kranken dagegen sind die Meinungen verschieden, ebenso
z.B. bei Depressiven.
Literaturhinweis:
Heckhausen
(1989), S.343-351
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mit Angst...
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