Sexualität

Sexualität gilt in weiten Teilen unserer Gesellschaft als die "schönste Sache der Welt", oder doch zumindest als "schönste Nebensache der Welt". Wie läßt sich diese Beliebtheit erklären? Zwei mögliche Antworten erscheinen auf den ersten Blick plausibel:
"Weil es Spaß macht."
"Weil es der Fortpflanzung dient."
Was ist nun richtig? Der Fortpflanzung dient Sex doch in jedem Falle! Oder? Vermutlich wird in weit über 99% der Fälle, wenn heute Mann und Frau miteinander schlafen, bewußt Fortpflanzung ausgeschlossen - mittels Verhütung. Außerdem ist zu erwarten, daß sich durch die Ausbreitung der künstlichen Befruchtungsmethoden und gentechnischen Möglichkeiten Sexualität und Fortpflanzung immer mehr entkoppeln.
Aber zumindest macht doch Sex auf jeden Fall und nahezu jedem Menschen Spaß! Aktiviert. Verschafft Befriedigung. Sexuelle Erlebnisse sind, motivationspsychologisch gesprochen, emotional extrem positiv. Und das, obwohl sie, vor allem für den Mann, körperlich recht anstrengend sind...

Der aufmerksame Leser wird schon längst erkannt haben, daß "Spaßmachen" und "Fortpflanzungsdienlichkeit" keine Alternativerklärungen sind. Sie haben beide ihre Berechtigung, nur eben auf unterschiedliche Weise. Daß Sexualität sich evolutionär entwickelt hat, um Fortpflanzung zu ermöglichen, wird als "ultimate Ursache" bezeichnet, während das subjektiv positive Erleben, das selbst rationalste Menschen immer noch zum Sex antreibt, ja geradezu "versklavt", als "proximate Ursache" benannt wird. Beides bedingt sich eher, als daß es sich ausschließt.

Hierzu noch zwei Anmerkungen:
Erstens ist es nicht zwingend notwendig, daß ein biologisch sinnvoller Vorgang den Lebewesen auch Spaß macht. Der Lidschlagreflex ist sehr sinnvoll, macht uns aber keinen Spaß, verschafft uns keine Lust.
Zweitens muß man mit evolutionären Erklärungen immer vorsichtig sein. Kann erklärt werden, warum die Fortpflanzung gerade auf diese, noch dazu so komplizierte Weise vonstatten geht? Warum kriegt nicht einfach jeder Mensch alle zwei Jahre ein Kind, ohne befruchtet werden zu müssen? Eine sinnvolle Erklärung dafür ist, daß nur durch sexuellen Kontakt zweier Menschen eine Neukombination des Genmaterials möglich ist - und damit auch Variation, was schließlich bessere Anpassung durch Selektion bedeutet. Biologischer Fortschritt ist in dieser Argumentation nur bei sexuellen Wesen möglich.

Was zeichnet das Sexualmotiv bzw. das Sexualverhalten aus? Ganz allgemein kann man sagen, daß beides beim Menschen fundamental von kulturellen, historisch sich wandelnden Normen abhängt. Manche Menschen zeigen kein Sexualverhalten, weil kirchliche Normen es ihnen verbieten. Ob man bei diesen dann noch von einem Sexualmotiv sprechen kann, ist Ansichtssache. Viele Menschen verinnerlichen zumindest die Norm, daß bestimmte Formen der Sexualität "nicht sein dürfen", allen voran Selbstbefriedigung, Inzest, Gruppensex, Sex mit Fremden etc. etc.

Situative Anreizbedingungen

Werden wir aber etwas konkreter: Was sind situative Anreizbedingungen für Sexualverhalten? Bei Tieren finden wir häufig einen angeborenen Auslösemechanismus. Ganz bestimmte Reize, häufig olfaktorischer, aber auch visueller und akustischer Art, führen zu einem meist sehr standardisiert ablaufenden "rituellen Tanz" zwischen Männchen und Weibchen.
Bei Menschen verläuft es, wie oben schon angedeutet, bei weitem nicht so "durchgeplant" ab. Zwar gibt es bestimmte Sitten und Gebräuche - z.B. wird ein Paar mit größerer Wahrscheinlichkeit im Bett Sex haben als auf dem Küchentisch - aber ausgeschlossen ist nichts, ganz im Gegenteil, oft ist das Ungewohnte besonders reizvoll.

Durch welche Reize werden Menschen erregt, d.h. zu Sex motiviert? Hier hat sich interessanterweise gezeigt, daß - neben der visuellen Darbietung von nackten und/oder geschlechtsverkehrenden Menschen - sich auch allein die Vorstellung erotischer Szenen eignet, ja sogar die stärkste sexuelle Erregung auslöst. (Warum dennoch eine gigantische Porno-Industrie existieren kann, ist eine andere Frage...) Inwieweit Duftstoffe bei der Erregung (oder auch Partnerwahl) eine Rolle spielen, ist noch nicht eindeutig geklärt.

Ein wichtiger auslösender Reiz könnte auch die wahrgenommene Erregung sein. Aus der Emotionspsychologie ist die Studie von Valins (1966) (siehe Emotionsmodul, Kap.2.2, Abschnitt Schachter) bekannt, in der männliche Probanden sich von (falschen) Rückmeldungen über ihre Herzrate bei der Attraktivitätsbeurteilung von halbnackten Frauen beeinflussen ließen.
Ein differenzierteres Bild von dieser Art Fehlattribution zeichnet die Studie von Cantor, Zillmann und Bryant (1975): Direkt nach sportlicher Betätigung attribuieren die Probanden ihre körperliche Erregung beim Sehen eines sexuell anregenden Films auf den Sport; wenn fünf Minuten vergangen sind, lassen sie sich dagegen zu einer Attribution auf den Film hinreißen. Daß dies eine Fehlattribution sein muß, wird dadurch klar, daß eine dritte Gruppe, bei der der Film nach einer zehnminütigen Pause gezeigt wird, diesen nicht anregend finden (weil sie nicht mehr körperlich erregt sind).
Wahrgenommene Erregung könnte also ein für Sexualverhalten motivierender Faktor sein. Da es in der Studie aber nicht direkt um (tatsächliches) Sexualverhalten, sondern nur um die Einschätzung eines Films geht, bietet diese Studie bestenfalls einen Hinweis für einen solchen Zusammenhang. Was sind ethische und versuchstechnische Probleme, die einer direkter Beforschung dieser Hypothese im Wege stehen? Darüber mache sich die Leserschaft kurz selbst Gedanken...

Was die Partnerwahl betrifft, so gibt es beim Menschen auch hier keine festen Regeln. Der Verweis auf "körperliche Schönheit" ist hier wenig hilfreich. Andererseits dürfte leicht zu zeigen sein, daß Menschen, die den Schönheitsidealen ihres Geschlechts in etwa gleich nahe kommen, eher miteinander schlafen als "Schöne mit Häßlichen". Dieses Feld überlassen wir aber lieber den Soziologen.

Interindividuelle Unterschiede

Das Sexualmotiv ist wohl - neben Hunger - das Motiv, bei dem die biologischen Grundlagen am besten erforscht sind und auch subjektiv am deutlichsten ins Auge fallen. Weshalb finden wir aber bei diesem Motiv eine große Variationsbreite zwischen den Individuen?

Eine Antwort haben wir oben schon gegeben: Verschiedene Individuen glauben an verschiedene Normsysteme. Aber das kann nicht ausreichen; es erklärt nur die groben Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ("Konservative", "Bürgerliche", "Liberale" etc.). Warum aber gibt es Personen, die ein ausgefallenes, bizarres Sexualverhalten zeigen, daß häufig auch gar nicht ihren Normen entspricht?
Zu denken ist hier an den "Triebtäter", der nach seinem Vergreifen an Kindern dies aufrichtig bereut; außerdem an das Vergewaltigungsopfer, das zwar mit dem neuen Freund schlafen will, aber einfach nicht kann; schließlich an den Ehemann, der trotz glücklicher Ehe nicht von der täglichen Selbstbefriedigung lassen kann und deswegen sich aufgrund gegesätzlicher Normen in Selbstvorwürfen ergießt.

Warum erscheint das Sexualverhalten einerseits so unkontrollierbar, andererseits so variabel? Es liegt nahe, dies aus einer lerntheoretischen Perspektive zu erklären. Demnach besitzt der Mensch die bioloigisch determinierte Fähigkeit, durch sexuelles Verhalten ein großes Maß an Befriedigung zu erreichen; diese Befriediung fungiert als sehr mächtiger Verstärker. Was einmal - vielleicht durch Zufall - zu einer solchen Befriedigung geführt hat, wird im Gedächtnis gespeichert und zukünftig wiederholt.
Demnach ist die Frage, wie eine Person ihr Sexualverhalten gestaltet, eine Frage der Konditionierung: Wer als Junge einmal aus Neugier sexuellen Kontakt mit einem Schaf hatte, wird das entstandene sexuelle Verlangen vielleicht nie wieder los. Diejenigen, die nicht mit Schafen schlafen, tun dies nicht, weil sie glauben oder wissen, daß es nicht befriedigt, sondern weil sie Normen entsprechen wollen, die eine solche "Perversion" untersagen.
Normen sind allerdings nicht das einzige, was die Variationsbreite sexuellen Verhaltens einschränkt. Hinzu kommt natürlich die biologische Konstitution, die einige sexuelle Praktiken erfolgreicher werden läßt als andere. Prinzipiell ist aber alles möglich.

Natürlich gibt es auch für das einstige Tabu-Thema Sexualität eine große Menge von interessanten Forschungsbefunden, die an dieser Stelle noch zu erwähnen wären. Aber die Relevanz des Sexualmotivs für die Motivationsforschung ist relativ gering. Sexualverhalten ist eher ein Forschungsfeld für Neurobiologen, Soziologinnen, Geschlechterforscher und allenfalls Klinische Psychologinnen. Die Einflüsse von Biologie und Kultur sind wohl einfach so groß, daß psychische Prozesse nur von untergeordneter Bedeutung sind: Sie führen, so scheint es, lediglich die körperlichen Befehle aus und bilden kulturelle Normen ab.

Literaturhinweis:
Schneider & Schmalt (2000), Kap.5

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