Hunger und Durst

Zum Ende unseres kleinen Motivüberblicks kommen wir zum gleichzeitig wichtigsten wie unwichtigsten Motiv: dem Hunger (immer mitgemeint: Durst).
Warum ist es das wichtigste aller Motive? Weil wir ohne seine ständige Befriedigung nicht überleben können. Unser ganzes Leben lang müssen wir essen und trinken. Tun wir es nicht, sterben wir früher oder später, wie man am traurigen Beispiel von eßgestörten Personen sieht.
Warum ist es das unwichtigste Motiv? Weil es in unserer Gesellschaft nahezu keine Menschen gibt, die nicht in der Lage wären, das Motiv zu jeder Zeit zu befriedigen. So kann man zugespitzt sagen: Hunger gibt es bei uns eigentlich gar nicht. Wir essen aus Gewohnheit. Wie ein Mensch, der mehrere Tage nichts gegessen hat, psychisch beeinflußt wird, können wir aus eigener Erfahrung nicht sagen.

Nun darf man natürlich zwei Dinge nicht verwechseln: Hunger als Motiv gibt es in unserer Gesellschaft selbstverständlich, d.h. wir alle wollen essen (manche mehr, manche weniger). Was es nicht oder nur wenig gibt, ist das Hungergefühl, also das längere Erleben eines Mangelzustands, wie er uns beim Sexualmotiv vielleicht vertrauter ist (wenn er auch hier längst nicht so stark ins Bewußtsein tritt). Was uns in den westlichen Gesellschaften dagegen sehr vertraut ist, ist ein spezifisches Eßbedürfnis, ein "Hunger auf...". Kann man "Hunger" und "Hunger auf" überhaupt in einen Topf werfen?
Was meinen wir dann aber genau mit "Hunger" als Motiv? Ist Hunger das Motiv, das Hungergefühl zu beenden, oder aber das Motiv, etwas bestimmtes zu essen? Beides muß nicht zusammenfallen, erst recht nicht in unserer Wohlstandsgesellschaft. Wir werden uns im folgenden eher mit dem zweiteren, also dem "Eßmotiv" auseinandersetzen.

Unabhängig von dieser Unterscheidung hat Hunger in jedem Fall hohen evolutionären Anpassungswert, weil er den Stoffwechsel aufrechterhält. Würde nicht ein unablässiger "Eßtrieb" uns anstacheln, würden wir verhungern. Eindrucksvoll - wenn auch grausam - wurde dies an Versuchen mit Katzen demonstriert. Nach Manipulation bestimmter Gehirnregionen fraß die Katze nichts mehr und starb. Menschen dagegen könnten zugegebenermaßen auch einfach "aus Vernunft" essen, also ohne Hunger zu haben. Auf Anraten des Arztes trinken z.B. heutzutage viele ältere Menschen täglich große Wassermengen, obwohl sie alles andere als Durst haben.

Hunger ist ein Motivsystem, das sehr eng an körperliche Signale gebunden ist. Wir essen dann, wenn wir bestimmte körperliche Reize wahrnehmen, vor allem im Bereich von Mundhöhle, Magen, Darm und Leber. Als zusätzlicher "Anstachler" des Hungers dient auch die visuelle und olfaktorische Wahrnehmung, d.h. das Sehen und Riechen von Speisen.
Diese körperlichen und sensorischen Hinweise fungieren nicht nur als Start-Zeichen zu essen, sondern auch als Stop-Zeichen: Nicht nur ein leerer, sondern auch ein voller Bauch meldet sich; und der Geruch von Schokolade stachelt meinen Hunger vor dem Verzehr der 300g-Tafel noch an, danach jedoch ruft er eher Abwehr, ja geradezu Ekel hervor.

Geschmacksvorlieben

Sind unsere Geschmacksvorlieben angeboren oder erlernt? Die Antwort ist wie so oft ein eindeutiges Sowohl-als-auch. Neugeborene zeigen eindeutige Präferenz für süßen Geschmack und Abneigung für Salziges, Saures und Bitteres. Die Vorliebe für Süßes läßt sich gut evolutionär erklären, da Zucker ein wichtiger Energielieferant und nicht giftig ist. Auch die Abneigung gegen Bitteres ist biologisch sinnvoll, da viele Gifte bitter schmecken.
Man muß sich hier klarmachen, daß Bitteres nicht "an sich" bitter ist, sondern daß wir es nur so wahrnehmen. Deshalb ist es nicht etwa "logisch", daß Bitteres uns nicht schmeckt. Es könnte auch anders sein!

Warum haben wir nicht alle dieselben Geschmacksvorlieben? Dies hängt von Lernprozessen ab. Die Natur hat unser Präferenzsystem sozusagen in gewissen Grenzen flexibel gestaltet. Präferenzen und Aversionen bilden sich zwischen dem 6. und 12. Lebensjahr aus. Was Aversionen betrifft, so sind die lerntheoretischen Mechanismen wohl jedem aus dem Alltag bekannt: Was einem einmal nicht bekommen ist, ißt man nicht wieder; besonders dann, wenn die Folgen sehr unangenehm sind (Erbrechen etc.).
Verhaltenstherapeutischer Ratschlag ist in diesem Fall: Gleich am nächsten Tag wieder dasselbe essen, solange, bis sich der Körper daran gewöhnt hat. (Für alkoholische Getränke ist dieser Ratschlag natürlich nicht angemessen!)

Und wie sieht es mit der Entstehung von (besonderen) Vorlieben aus? Hier zeigte sich in einer Untersuchung von Diehl aus dem Jahre 1991, daß Vorlieben vor allem durch Gewohnheit entstehen. Soll heißen: Was einem schon immer vorgesetzt wurde, mag man auch (meistens). Im Widerspruch dazu zeigte sich aber, daß die Übereinstimmung in den Vorlieben von Mutter und Kind eher gering sind; jedenfalls geringer als die in den Aversionen.

Eßstörungen

Bevor wir uns direkt mit den Eßstörungen befassen, ist es hilfreich, sich eine Studie zu vergegenwärtigen, die die psychischen Folgen von dauerhafter Nahrungsverringerung untersucht hat. Keys und seine Mitarbeiter baten 1950 36 Kriegsdienstverweigerer, freiwillig ein halbes Jahr die Hälfte an Kalorien zu sich zu nehmen, die sie normalerweise zu sich nehmen, sprich: zu hungern. Ihnen wurde sozusagen eine Eßstörung induziert. Die Teilnehmer verloren nicht nur ein Viertel ihres Gewichts, sondern klagten auch über Konzentrationsstörungen, sozialen Rückzug, Verlust sexuellen Interesses und Depression sowie über Heißhunger-Anfälle nach der Hungerperiode.

Dies gibt einen Hinweis darauf, wie es Menschen gehen muß, die - aus biologischen oder psychologischen Gründen - die Essensaufnahme ablehnen. Solche Menschen nennen Klinische Psychologen "anorektisch". Diese Eßstörung (mit vollem Namen: anorexia nervosa) wird immer verbreiteter, und zwar vor allem bei Mädchen und jungen Frauen. Dies deutet darauf hin, daß Anorexie primär durch kulturelle Einflüsse (sprich: Schönheitsideal) verursacht wird, was in Anbetracht der medialen Überflutung mit überschlanken Popstars plausibel erscheint.
Ähnlich bei Bulimie: Hier jedoch wechseln sich Fastenperioden mit Freßattacken ab, in deren Anschluß sich die Person allerdings des Gegessenen mittels Erbrechen oder Abführmitteln wieder wieder entledigt.
Die Störung von Menschen, die zu viel oder zu unregelmäßig essen, wird mit Namen wie Obesitas oder Adipositas bezeichnet. Die Einzelheiten hier zu erläutern würde aber den Rahmen sprengen.

Fertig

Nun gäbe es natürlich noch einiges mehr zu sagen, etwa über die Physiologie von Hunger und Durst. Da man diese Themen aber nicht abhandeln kann, ohne weiter auszuholen, wird hier nur auf z.B. das Lehrbuch von Birbaumer & Schmidt (1999) verwiesen.
Außerdem gilt für Hunger Ähnliches wie für Sexualität: Aufgrund der starken biologischen Anteile überläßt die Motivationspsychologie diese Felder weitesgehend den Biologen und Medizinern. Die Psychologie steuert eher hier und da etwas zum Erkenntnisfortschritt bei, als daß sie ausgefeilte Theorien vorlegen könnte, wie wir dies z.B. beim Leistungsmotiv gesehen (durchlitten?) haben. So mag sich der Leser und die Leserin auch den eher laxen Erzählstil der letzten Abschnitte erklärt haben.
Außerdem ist es auch kein Wunder, daß die letzten Abschnitte eher kurz geraten sind. Sie waren einerseits inhaltlich nicht mehr so wichtig. Aber andererseits kann dies auch durch Millers Konfliktmodell erklärt werden: Kurz vor dem Ziel nimmt halt der Drang zum Ziel zu...

Literaturhinweise:
Schneider & Schmalt (2000), Kapitel 4
Birbaumer & Schmidt (1999), S.607-613

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