Naive
Verhaltenserklärungen
Wie
erklären wir uns im Alltag das Verhalten (oder auch: Handeln)
unserer Mitmenschen? In aller Regel haben wir hier ja nicht die
Gelegenheit, hochtrabende psychologische Experimente durchzuführen
oder ähnliche Anstrengungen auf uns zu nehmen, die unsere Erklärung
"wissenschaftlicher" macht.
Nehmen
wir also an, die Studentin Christine hat eine sehr gute Statistikprüfung
abgelegt. Wie kommt das? Eine Erklärungsmöglichkeit ist
z.B.: "Christine ist intelligent." Oder auch: "Christine
ist ehrgeizig." Dies sind typische Erklärungen, die davon
ausgehen, daß größtenteils die "Persönlichkeit"
eines Menschen, also seine überdauernden, stabilen Eigenschaften,
sein Verhalten bestimmt. Diese Attribution auf die Person
ist die wohl häufigste, oder zumindest die zeitlich erste Erklärung
im Alltag. Wir sprechen daher von der "Verhaltenserklärung
auf den ersten Blick".
Andere
Erklärungsversuche könnten so lauten: "Christine
hat zufällig das Richtige gelernt." Oder: "Christine
hat sich bei Prof. Gerner eingeschleimt." Oder am besten einfach:
"Christine hatte Glück."
Diese Erklärungsart kann man treffend mit dem Sprichwort "Gelegenheit
macht Diebe" charakterisieren: Nicht etwa die Eigenschaften
der Person sind maßgeblich für das Zustandekommen des
Verhaltens, sondern die spezielle Situation, in der es zu
dem Verhalten kam. Diese Erklärungsebene ist schon etwas anspruchsvoller,
so daß wir von der "Verhaltenserklärung auf den
zweiten Blick" sprechen.
Verhaltenserklärungen
auf den dritten Blick ergeben sich direkt aus den ersten beiden:
Sie berücksichtigen sowohl die Person als auch die Situation.
Verhalten ist also demnach das "Produkt" aus Personmerkmalen
und Situationsmerkmalen. Jedoch müssen sich nicht beide Einflüsse
einfach addieren, sondern es kann zu Wechselwirkungen (Interaktionen)
zwischen beiden kommen: Was für den einen eine förderliche
Situation ist, kann für den anderen eine hinderliche sein.
Drei
Arten von Verhaltenserklärungen
Was
hat dies aber mit Motivationspsychologie zu tun? Was interessiert
uns, wie diese "Naivlinge" sich das Verhalten ihrer Mitmenschen
erklären? Erst einmal nicht viel. Die Ursachensuche im Alltag
gibt uns aber ein gutes Schema, auf dem wir verschiedene Forschungszweige
der Psychologie (insbesondere der Motivationspsychologie) einordnen
können:
Die
Verhaltenserklärung auf den ersten Blick war wohl auch
in der Geschichte der Motivationspsychologie die erste, zumindest
stand sie mit an ihrem Anfang, und zwar in Gestalt der sogenannten
"Eigenschaftstheorien". Bekannte Vertreter sind Allport,
Maslow oder auch McDougall. Sie gehen davon aus, daß sich
Personen in ihren (überdauernden) Motiven beträchtlich
unterscheiden und daß diese individuelle Motivstruktur für
ihr Verhalten verantwortlich ist. Uns klingt da ja noch das obige
Beispiel "Christine ist ehrgeizig" im Ohr. Dies beschreibt
recht treffend die Argumentation der Eigenschaftstheoretiker; vielleicht
würden sie heute lieber sagen: "Christine besitzt ein
ausgeprägtes Leistungsmotiv".
Die
Verhaltenserklärung auf den zweiten Blick ist dagegen
typisch für die gegenwärtige sozialpsychologische Forschung,
natürlich auch für den Behaviorismus. Interindividuelle
Unterschiede interessieren nicht so sehr, von überdauernden
Motiven ist kaum die Rede. Personen werden in eine Situation versetzt,
und ihr Verhalten wir protokolliert. Das bedeutet natürlich
nicht, daß nach dieser Erklärungsart Menschen nicht motiviert
sind: Sie sind nicht "aus sich heraus" zu etwas motiviert,
sondern werden von ihrer Umwelt motiviert.
Die
Verhaltenserklärung auf den dritten Blick ist in der
gegenwärtigen Motivationspsychologie sowie in der gesamten
Allgemeinen Psychologie anzutreffen. Meist wird die Situation betont,
jedoch "interindividuelle Unterschiede" (mitsamt ihren
Wechselwirkungen mit den situationellen Bedingungen!) werden nicht
außer acht gelassen.
Paradigmatisch
für die neuere Motivationspsychologie ist das - schon im vorigen
Abschnitt kurz erwähnte - Erwartungs-Wert-Modell: Motivation
ist hiernach das Produkt aus subjektiver Wahrscheinlichkeit (das
erstrebte Ziel zu erreichen) und subjektivem Wert (des Ziels). Hieran
wird schön deutlich, wie beide Faktoren - Person und Situation
- ineinandergreifen:
Meine Bewertung eines Ziels (z.B. eine bestandene Statistikprüfung)
hängt zum einen davon ab, welchen Wert mir meine Umgebung nahelegt
(z.B. "du mußt die bestehen, sonst kannst du nicht weiterstudieren"),
zum anderen davon, wie wichtig mir selbst dieses Ziel ist (z.B.
"ob ich weiterstudieren kann, ist mir eigentlich egal").
Ähnliches gilt für die Erwartung: Der eine ist optimistischer,
der andere pessimistischer - aber die Informationen aus der Umgebung
legen doch eine gewisse Tendenz nahe (z.B. "die Prüfung
hat bis jetzt jeder geschafft").
Womit wir gleich beim nächsten Thema wären: Welche
Informationen lassen eine Person welche Attribution (oder auch "Handlungserklärung")
vornehmen? Im
Beispiel: Wenn die Statistikprüfung bis jetzt jeder bestanden
hat, Steffen aber durchfällt, liegt es nahe, in seiner Person
(z.B. in fehlender Anstrengung oder Fähigkeit) den Grund zu
suchen. Wenn dagegen jeder eine Eins erhalten hat, und Christine
erhält nun auch eine, liegt dies wohl an der Einfachheit der
Prüfung.
Kelleys
Vegleichsdimensionen
H.H.
Kelley hat sich zu diesen Fragen in den sechziger Jahren einige
Gedanken gemacht. Er postulierte, daß wir im Alltag so etwas
wie eine Varianzanalyse durchführen. Das hört sich erst
einmal lustig an, denn die Varianzanalyse ist ein recht komplexes
statistisches Verfahren. Und das sollen wir im Geiste ausführen?
Ständig?
(Lustig hört es sich auch deshalb an, weil der
Verdacht naheliegt, der Psychologe Kelley sei von der in der Psychologie
allgegenwärtigen Statistik so fasziniert gewesen, daß
er sie gleich auf seine Forschungsobjekte übertragen hat. So
wird die Methode als Metapher für die Theorie...)
Aber
keine voreiligen Verurteilungen! So unplausibel sind Kelleys Überlegungen
gar nicht, ja sie erscheinen fast trivial:
Kelley postuliert drei Vergleichsdimensionen, die wir im
Alltag bei der Erklärung einer Handlung heranziehen:
- Situationen/Objekte: Kommt die Handlung (bei dieser Person
und zu diesem Zeitpunkt) auch in anderen Situationen (=bei anderen
Handlungsobjekten) vor? Wenn nein, hohe Distinktheit.
- Personen: Machen auch andere Personen diese Handlung (in
dieser Situation und zu diesem Zeitpunkt)? Wenn ja, hoher Konsensus.
- Zeitpunkte: Geschieht die Handlung auch zu anderen Zeitpunkten
(bei dieser Person und in dieser Situation)? Wenn ja, hohe Konsistenz.
Bei
der Analyse wird also nach dem Kovarianzprinzip vorgegangen:
Die drei Unabhängigen Variablen Distinktheit, Konsensus und
Konsistenz bestimmen, ob die Handlung mit der Situation, dem Handelnden
oder dem Zeitpunkt kovariieren. Ein
Effekt wird derjenigen seiner möglichen Ursachen zugeschrieben,
mit der er, über die Zeit hinweg, kovariiert.
Nach
Kelley gibt es ideale Muster dieser drei Informationen, die mit
großer Sicherheit zu bestimmten Attributionen führen:
Informationen
zu:
|
zusammengefaßt |
Attribution |
Konsensus |
Distinktheit |
Konsistenz |
niedrig
(v) |
niedrig |
hoch |
Effekt
variiert nur über Personen |
Person |
hoch |
hoch
(v) |
hoch |
Effekt
variiert nur über Situationen |
Situation |
niedrig
(v) |
hoch
(v) |
niedrig
(v) |
Effekt
variiert über alles |
"Umstände" |
(v)
kennzeichnet eine Variation in dieser Vergleichsdimension
(Genauere
Details hierzu sind hier nicht wichtig. Sie sind eher Gegenstand
der Sozialpsychologie als der Motivationspsychologie.)
Konsistenzparadox
Abschließend
wollen wir noch einen Blick auf einen interessanten Befund werfen,
den die Forschung zu naiven Verhaltenserklärungen mit sich
brachte und der "Konsistenzparadox" genannt wurde.
Der Alltagsmensch glaubt, daß er selbst und auch andere Menschen
sich konsistent verhalten, d.h. daß sich verschiedene Personen
in einer bestimmten Klasse von Situationen jeweils konsistent verhalten
(aber voneinander abheben). Ganz nach dem Motto: "Der eine
ist immer hilfsbereit, der andere nie." Das Paradoxe besteht
nun darin, daß dieser Glaube regelmäßig von der
Empirie widerlegt wird.
So stellte sich beispielsweise in einer Untersuchung von Hartshorne
und May aus dem Jahre 1928 heraus, daß nahezu alle Schulkinder
in bestimmten Situationen mogeln, in anderen aber nicht.
Eine
mögliche Erklärung für das Konsistenzparadox liegt
darin, daß wir im Alltag einfach besser "Situationsklassen"
bilden können als Psychologen dies tun. In dem Beispiel: Während
Hartshorne und May die Situationsklasse "Mogeln" bildeten,
haben die Schüler vielleicht die Klasse "Unrecht tun nur
wenn es unbedingt nötig ist" im Kopf. Sie mogelten daher
nur manchmal - nämlich wenn es unbedingt nötig war. Ebenso
würden sie auch nur manchmal stehlen - nämlich wenn es
unbedingt nötig ist. Aus ihrer Sicht handeln sie also konsistent.
Brunswik nannte dieses Kriterium für die Situationsklasse "Äquifinalität":
Es werden alle die Situationen in Situationsklassen zusammengefaßt,
in denen ein Handeln dieselben Handlungsfolgen
hat (also äquifinal ist). In unserem Beispiel hätte das
Mogeln jeweils die Folge, schwerwiegende negative Auswirkungen (eines
Nicht-Mogelns) zu verhindern.
Unverständlich?
Nicht so schlimm. Die Details sind hier wiederum nicht so entscheidend.
Wichtig ist nur zu verstehen, daß Begriffe wie "Konsistenz"
zwar in der Theorie plausibel erscheinen, in der Praxis aber schwer
zu fassen sind. Was für mich konsistent ist, ist für dich
vielleicht inkonsistent usw.
Diese Art von Problemen begegnet uns häufig in der Psychologie:
Es werden Begriffe so verwendet, als bezeichneten sie das "Ding
an sich", obwohl sie nur in einem bestimmten Bedeutungskontext
zu verstehen sind. Dies führt dann häufig dazu, daß
die Argumentation zirkulär gerät. (Ein Beispiel erörtern
wir im Modul Emotion, Kapitel 2.3, Resümee.)
Literaturhinweis:
- Heckhausen (1989), Kap.1 sowie
speziell zum Rubikon-Modell S.212-218
Wie
soll's weitergehen?
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