Die Theorie von Plutchik

Plutchik entwickelte seine "psychoevolutionäre" Emotionstheorie - ähnlich wie Mandler - schrittweise zwischen 1958 und 1994 fort.
Er faßt seine Überlegungen in zehn Postulaten zusammen, von denen wir hier die wichtigsten sechs besprechen wollen:

1. Emotionen haben eine genetische Grundlage.

Die acht primären Emotionen (s.u.) beruhen auf (physiologischen) Mechanismen, die im Laufe der Evolution zur Bewältigung von grundlegenden Anpassungsproblemen (Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung, Schutz vor Feinden etc.) entstanden sind.
Mit "Mechanismen" sind hier automatisch ablaufende "Programme" gemeint, die auf bestimmte Reize bestimmte Reaktionen erfolgen lassen (siehe auch Postulat 3).

2. Emotionen sind grundlegende Formen der Anpassung, die in der einen oder anderen Form auf allen Stufen der phylogenetischen Leiter identifiziert werden können.

Emotionen kommen also bei allen Organismen vor.

3. Emotionen sind komplexe Ketten von Reaktionen mit stabilisierenden Rückmeldeschleifen, die eine gewisse Art von Homöostase des Verhaltens herstellen.

Welche Schritte diese - größtenteils unbewußte - Reaktionskette umfaßt, zeigt die folgenden Darstellung der Emotionsentstehung (sequentielles Modell der Emotionen):

Ereigniskette, die eine Emotion definiert Beispiel: Ereigniskette, die "Furcht" definiert
Reiz, Ereignis Bedrohung durch Aggressor
Kognitive Einschätzung (gut vs. schlecht etc.) "Gefahr!"
Gefühlszustand Physiologische Reaktion Furcht Erhöhte autonome Aktivität
Handlungsimpuls Impuls davonzulaufen
Beobachtbares Verhalten Davonlaufen
Auswirkung,
bewirkt Rückmeldeschleifen zu allen Schritten der Kette, sorgt damit für Gleichgewichtszustand (Homöostase)
Schutz vor Bedrohung,
bewirkt Rückmeldeschleifen "Bedrohung reduzieren" (1), "keine Gefahr mehr" (2), Entspannung (3), Impuls das Davonlaufen zu beenden (4), Davonlaufen beenden (5)

Wie schon in Kapitel 1.1 erwähnt, ist Plutchiks Theorie eine Syndromtheorie. Die Schritte, die Plutchik zu Emotionen dazuzählt, sind in der Tabelle in großer Schrift dargestellt (also alles von kognitiver Einschätzung bis beobachtbarem Verhalten).
Anleihen bei James und Schachter macht Plutchik dahingehend, daß kognitive Einschätzungen und physiologische Veränderungen, wie in der Tabelle abzulesen, das Emotionserleben ("Gefühlszustand") determinieren.

4. Es gibt acht grundlegende oder primäre Emotionen.

Plutchik postuliert die Existenz von ererbten Dispositionen zu genau acht verschiedenen adaptiven Verhaltensweisen, die die Fitness steigern.
Jede dieser acht Verhaltensweisen, die demnach eine biologische Funktion haben, ist eine primäre Emotion zugeordnet:

Auslösendes Ereignis Kognitive Einschätzung Gefühl Handl.simpuls Biologische Funktion
Bedrohung Gefahr! Furcht Flucht Schutz
Hindernis Feind! Ärger Angriff Zerstörung
Potentieller Geschlechtspartner Besitzen! Freude Paarung Fortpflanzung
Verlust eines geschätzten Individuums Verlassensein! Traurigkeit Weinen Reintegration
Mitglied der eigenen Gruppe Freund! Akzeptieren, Vertrauen Umsorgen Einverleiben
Ungenießbares Objekt Gift! Ekel Ausspeien, Wegstoßen Zurückweisen
Neues Territorium Was ist da draußen? Erwartung Untersuchen Erkunden
Unerwartetes Objekt Was ist das? Überraschung Innehalten Orientierung

Diese Tabelle soll lediglich einen Eindruck davon vermitteln, was Plutchik sich so gedacht hat. An vielen Stellen dieser knappen Aufzählung könnte man mit Kritik ansetzen - aber es ist zumindest ein Versuch, wenn auch ein unvollkommener. (Was ich damit sagen will: Auswendig zu lernen braucht man diese Tabelle sicherlich nicht!)

5. Die Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den primären Emotionen können in einem dreidimensionalen strukturellen Modell dargestellt werden.

Emotionen sind unterschiedlich ähnlich und lassen sich daher wie auf einem Farbenkreis anordnen. Ähnliche Emotionen liegen nebeneinander, unähnlich stehen sich gegenüber.
Dieses Modell ist für uns nicht von Interesse. Wer dennoch neugierig geworden ist auf den "Farbenkreis" der Emotionen, findet ihn bei Meyer, Schützwohl und Reisenzein (1997) auf S.152.

6. Alle anderen Emotionen sind Mischungen oder Kombinationen von gleichzeitig auftretenden primären Emotionen.

Das gleichzeitige Auftreten erfolgt dann, wenn die kognitive Einschätzung nicht eindeutig ist, also mehrere Primäremotionen nahelegt. Je unähnlicher sich die beteiligten Emotionen sind, desto größer ist der Konflikt zwischen den beiden. Mischen sich zwei benachbarte Emotionen, so entstehen primäre Dyaden. So entsteht z.B. aus den Kognitionen für "Ärger" und "Verachtung" die Emotion Verachtung" (primäre Dyade).
Sind die Emotionen nicht direkt benachbart, so entstehen sekundäre bzw. tertiäre Dyaden. Sind die Emotionen völlig entgegengesetzt, so resultiert eine Hemmung bzw. "Immobilisierung des Handelns".
Mischen sich drei Emotionen, entstehen Triaden.

Kritisch anzumerken ist bei Plutchiks Theorie vor allem das weitgehende Fehlern einer empirischen Grundlage. Dies gilt insbesondere für die Annahme von primären Emotionen (siehe Kapitel 1.3.). Was die allgemeinen evolutionspsychologischen Annahmen betrifft, so werden wir am Ende des Kapitels eine kritische Einschätzung versuchen.
Vorher aber wenden wir uns nun emotionspsychologischen Annahmen der "Evolutionären Psychologie" zu...

Allgemeine & Theoretische Psychologie
Emotion
1.1 Was sind Emotionen?
1.2 Funktion von Emotionen
1.3 Klassifikation
2.1 Behavioristische Emotionstheorien
2.2 Kognitiv-physio. Emotionstheorien
2.3 Attributionale Emotionstheorien
2.4 Evolutionspsy. Emotionstheorien
3 Gesichtsausdruck
4 Auswirkungen
Literatur
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