Aggression

Was ist Aggression? Ist es nicht etwas Ähnliches wie Macht, die wir bereits diskutiert haben? Das Aggressionsmotiv ist doch ebenfalls ein soziales Motiv, das sich gegen Mitmenschen richtet. Was ist also der Unterschied?
Man könnte vielleicht sagen, Aggression ist der Diener der Macht. Wer nach Macht strebt, muß die eventuell nötige Aggression (als Sanktion) ausüben können und wollen.
Bei aller Verwandtschaft gibt es doch in den Zielen beider Motive klare Unterschiede. Während Macht zum Ziel hat, durch die Kontrolle anderer Menschen seine eigenen Wünsche durchzusetzen, gibt es bei Aggression solch ein eigennütziges Ziel nicht: Eine aggressive Handlung dient nur dazu, anderen Menschen Schaden zuzufügen.

Ob dieser Schaden körperlich oder seelischer Art sein soll, spielt keine Rolle. Daher ist aggressives Verhalten auch nicht anhand äußerer Merkmale definierbar. Entscheidend ist die Intention (Absicht) der handelnden Person. Derselbe Klaps auf den Hintern kann freundschaftlich oder auch aggressiv gemeint sein. Während einige Feministen auch Geschlechtsverkehr als Aggression von Mann zu Frau deuten, würden sich die meisten Mitglieder der Gesellschaft dem nicht anschließen. Aggressives Verhalten ist also durch eine aggressive Absicht gekennzeichnet, die von einem Beobachter zugeschrieben (attribuiert) wird.
Fällt der Beobachter mit dem Handelnden zusammen, so kann dieser seine Absicht selbst "beobachten". Diese Beobachtung muß jedoch nicht zutreffen, jedenfalls nicht unter einer bestimmten theoretischen Perspektive. Ein zweiter Beobachter könnte hier das aufrichtige Selbsturteil des ersten anzweifeln und von "unbewußten Motiven" reden. Dies ist z.B. in der psychoanalytischen Sicht der Aggression so, der wir uns später kurz zuwenden werden.
Wenn wir diese Erweiterung akzeptieren, so wird erst recht deutlich:
Was aggressiv ist, ist vor allem Zuschreibungssache.

Es macht Sinn, zwei Arten von Aggression zu unterscheiden: Einmal diejenigen aggressiven Verhaltensweisen, die der Handelnde subjektiv als Reaktion auf eine "Frustration" (Behinderung eigener Handlungsziele) durch andere versteht, zum anderen diejenigen, die einfach um der Aggression willen erfolgen, quasi aus "Lust an der Qual anderer".
Beide Arten von Gewalt sind intensiv erforscht worden. Die erstgenannte, reaktive Aggression war vor allem Gegenstand der sogenannten Frustrations-Aggressions-Forschung; die letztgenannte, spontane Aggression ist vor allem Thema triebtheoretischer Ansätze, mit deren Darstellung wir beginnen werden.

Triebtheorien

Triebtheorien gehen davon aus, daß Aggression eine angeborene Disposition im Individuum ist. Aggression ist unvermeidlicher Teil des Menschen; man kann ihn - so Freud in dem berühmten Briefwechsel mit Einstein - allenfalls versuchen zu kontrollieren, indem man gesellschaftlich unschädliche Möglichkeiten zur Abreaktion des Triebes schafft.
In Freuds Theorie hat Aggression zu jeder Phase eine wichtige Rolle gespielt, eine besonders starke aber in seiner letzten Schaffensphase, als er - wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs - in Form des Todestriebs (Thanatos) explizit einen eigenen Trieb zur Aggression postulierte. Die Energie des Thanatos richtet sich nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selbst.

Eine andere wichtige Triebtheorie ist die von Konrad Lorenz. Ausgehend von evolutionsbiologischen Überlegungen stellte Lorenz das sogenannte "psychohydraulische Energiemodell" auf. Aggression ist hier, ähnlich wie bei Freud, eine ständig nach außen strebende Energie, die sich anstaut und - bei geeignetem Auslösereiz - in aggressive Verhaltensweisen umgesetzt wird. Diese Auslöser sind evolutionär funktional; beispielsweise kann sich bei einem Mann der Aggressionsmechanismus besonders leicht auslösen, wenn ein anderer Mann ihm die Partnerin streitig macht. Das aggressive Bekämpfen des Rivalen hat dann ohne Zweifel den evolutionären Nutzen, seine eigenen Gene so besser weitergeben zu können. Für die Gattung als solche hat dieses Verhalten darüber hinaus den Überlebensvorteil, daß es zu einer natürlichen Auslese der Stärkeren kommt.

Kritisch an Lorenz' Theorie ist die doch recht kühne Übertragung von Befunden an Tieren auf Menschen. Kaum jemand wird bestreiten, daß der Nobelpreisträger Lorenz zu den wichtigsten Ethologen (Verhaltensforschern) des Jahrhunderts zählt. Übertragungen auf den Menschen jedoch, wie etwa die Behauptung, durch sportliche Massenveranstaltungen könne gesellschaftlich sinnvoll Aggression abgebaut werden, sind auf scharfe Kritik gestoßen.

Ebenso wie Freud hat auch Lorenz in der heutigen Aggressionsforschung keine Bedeutung mehr. Dennoch sollte man nicht die gesellschaftspolitische und kulturelle Wirkung unterschätzen, die beide Theoretiker ausübten. Bücher wie "Das sogenannte Böse" (Lorenz) oder "Warum Krieg" (Freud und Einstein) haben die Art und Weise, wie wir uns Aggression im Alltag heute erklären, entscheidend mitgeprägt!

Frustrations-Aggresions-Hypothese

Diese Hypothese ist aufgrund ihrer Einfachheit in die Geschichtsbücher der Psychologie eingegangen - nicht so sehr wegen ihrer Stichhaltigkeit. Nach der Vorstellung von Dollard und Mitarbeitern (1939) ist Aggression nicht etwa ein angeborener Trieb, sondern steht in enger Beziehung zu "Frustration".
Was heißt Frustration? Eine Person ist dann frustriert, wenn sie meint, durch äußere Einwirkungen um ein Ziel gebracht worden zu sein - egal ob sie diese Einwirkungen als von anderen Menschen beabsichtigt ansieht oder nicht.

Die Hypothese lautet nun ganz schlicht: Immer wenn eine Person frustriert worden ist, wird sie mit einer aggressiven Verhaltensweise reagieren, d.h. mit Verletzung, Schädigung oder Kränkung einer anderen Person. Diese Beziehung ist in beide Richtungen ausschließlich, d.h. umgekehrt gilt auch: Jede Aggression ist Folge einer Frustration. "Spontane" Aggression (s.o.) gibt es nach dieser Hypothese also nicht.

Vieles spricht gegen die Ausschließlichkeit dieser Hypothese. (Wenn mir jemand beim Fußball den Ball vor der Nase wegschnappt, kann, muß ich aber nicht aggressiv werden etc.) Schränkt man sie dagegen ein ("meistens", "oft"), so gewinnt sie den Status von common-sense-Wissens, wird trivial.
Berkowitz hat 1962 eine interessante Differenzierung der Hypothese vorgelegt. Als Vermittler zwischen Frustration und Aggression postuliert er Ärger. Ärger erfolgt zwar wiederum regelmäßig auf Frustration; ob der Ärger aber in Aggression mündet, hängt davon ab, ob dem Ärgernden geeignete Auslösereize gezeigt werden.

Im Beispiel: Wenn mir jemand beim Fußball den Ball vor der Nase wegschnappt, werde ich zwar in jedem Fall ärgerlich sein, aber ob ich mich "räche", hängt ganz davon ab, ob ich eine geeignete Chance dazu erhalte. Habe ich gerade die Chance, meinen Peiniger zu foulen, oder ihm am besten mit fairen gewaltsamen Mitteln den Ball abzujagen, dann werde ich es wohl tun. - Wer eine solch kampfbetonte Mannschaftssportart wie Fußball oder Basketball spielt, der weiß, daß man mit Wut im Bauch doppelt so schnell laufen kann...

Empirische Studien

Es gibt einige Untersuchungen in der Psychologie, die nicht deshalb berühmt geworden sind, weil sie zu theoretischen Fortschritten geführt haben, sondern weil sie auf große gesellschaftliche Resonanz stießen. Dazu zählen weniger Frustrationsexperimente an Ratten, sondern vielmehr "Realversuche" an Menschen, in denen die Gesellschaft den Beweis "des Bösen im Menschen" sieht. Zwei dieser aufsehenerregenden Untersuchungen haben mit der Aggressionsforschung zu tun: das sogenannte "Milgram-Experiment" und das "Stanford-Prison-Experiment". Auf beide wird hier nur kurz eingegangen, weil sie im fast jedem Psychologie-Einführungsbuch (z.B. im Zimbardo) ausführlich behandelt werden.

In der Versuchsreihe von Milgram (1963) zeigte sich, daß Versuchspersonen auf Anweisung eines weißkittligen Versuchsleiters dazu bereit sind, einer dritten Person erhebliche Schmerzen zuzufügen. Dieser blinde Gehorsam vor Autoritäten ist gesellschaftlich deswegen interessant, weil er verstehen hilft, wie es zu historischen Grausamkeiten wie den Konzentrationslagern im Nationalsozialismus kommen konnte.

Das "Stanford-Prison-Experiment" hat kürzlich durch eine Action-Verfilmung besondere Bekanntheit erlangt (wenn auch der Film erheblich überdramatisiert und dazuerfunden hat!). Schon Name der Verfilmung ("Das Experiment") führt gänzlich in die Irre, weil es sich um das Gegenteil eines Experiments handelte, nämlich eine relativ freie Verhaltensstudie.
Ein mehrtätiges Gefängnis-Spiel zwischen Freiwilligen mündet schon nach wenigen Stunden in Gewalt: Die Wärter nutzen ihre Macht aus und demütigen und drangsalieren die Gefangenen. Und das, obwohl die Wärter nicht frustriert wurden (höchstens durch die Monotonie des Jobs)! Die Studie kann somit als Beleg dafür angesehen werden, daß es so etwas wie spontane Aggression (s.o.) gibt. - Auch diese Vorfälle erinnern an Phänomene im Nationalsozialismus.

Von besonderem gesellschaftlichen Interesse ist die Frage, ob Aggression im Fernsehen jugendliche Zuschauer im Sinne von Imitationslernen selbst aggressiv werden läßt. Diese Diskussion wird bei tragischen Vorfällen wie erst kürzlich dem "Massaker von Erfurt" besonders angefacht. Empirische Studien kommen hier nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Dennoch zeigen die meisten Studien eine zumindest schwache Korrelation zwischen Gewaltkonsum in Fernsehen und Computer und gewalttätigen Handlungen. Zu beachten ist, daß eine solche Korrelation auch anders interpretiert werden kann: Gewaltkonsum und Gewalttätigkeit könnten auch abhängig von einer dritten Variablen gesehen werden, z.B. Erziehungsstil, soziale Verhältnisse oder Gewalterfahrung in der Familie.

Dies führt uns zum Anfang des Kapitels zurück. Schon hier hatten wir gesehen, wie schwierig es ist, die Ursachen von aggressivem Verhalten auszumachen. Ist Aggression an sich einfach berauschend, wie subjektive Erfahrungen des animalischen "Ausrastens" auf dem Fußballplatz vielleicht nahelegen? Oder hat auch das sinnloseste Quälen von Schwachen (Asylbewerbern, Kindern) seine Quellen in eigenen Erfahrungen? Unbestritten beispielsweise ist ja, daß Sexualverbrecher überdurchschnittlich häufig selbst Opfer von sexueller Gewalt waren. Inwieweit können aber solche Kindheitserfahrungen in direkten Bezug zu eigenen Gewaltdelikten gestellt werden? Die Aggressionsforschung sieht sich da - wie generell recht häufig in der Psychologie - vor Berge von Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten gestellt, die kaum stringente Theoriebildung zulassen.

Literatur:
Heckhausen (1989), S. 305-308, 319-321
Schneider & Schmalt (2000), Kapitel 8

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