Exkurs: "experimentelle Motivationsforschung"

Vergegenwärtigen wir uns zunächst kurz, was die wichtigsten Merkmale psychologischer Experimente im allgemeinen sind:

- Es wird die kausale Wirkung von Unabhängigen Variablen (UVs) auf Abhängige Variablen (AVs) untersucht, z.B. die Wirkung von der Dauer des Nahrungsentzugs (UV) auf die Schnelligkeit der Nahrungsaufnahme (AV).
- Dabei müssen die Bedingungen (=die Ausprägungen der UVs) aktiv und willkürlich variiert werden können. Wenn wir lediglich "in freier Natur" messen und beobachten, wie sich verschiedene Menschen verhalten, handelt es sich nicht um ein Experiment. Wir müssen unsere Untersuchungsobjekte zufällig in zwei Gruppen verteilen, die dann unterschiedlichen Bedingungen (z.B. unterschiedlich langem Nahrungsentzug) ausgesetzt werden. Nur so können Störvariablen kontrolliert werden.
- Ein Experiment muß außerdem so gestaltet sein, daß es jederzeit wiederholbar ist. Nur so ist eine fruchtbare wissenschaftliche Forschung möglich. Sind Experimente nicht von anderen Forschern wiederholbar (="replizierbar"), sind sie unkritisierbar und somit wertlos.

Beispiel

Wie sehen Experimente nun in der Motivationspsychologie aus? Nehmen wir an, wir wollen herausfinden, unter welchen Bedingungen (UVs) Personen wie stark zur Nahrungsaufnahme motiviert (AV) sind (Beispiel aus Weiner 1984, S.11-13).
Zuerst brauchen wir eine Hypothese darüber, was diese Bedingungen sein können. Ohne Hypothese kein Experiment. Die Hypothese verrät uns keine Methode - die müssen wir schon selbst "erfinden", natürlich auch unter Berücksichtigung der bisherigen Forschung oder gar eigener Theorien. Wir könnten z.B. einen positiven Einfluß auf die Nahrungsaufnahme-Motivation für folgende "Verhaltensdeterminanten" (UVs in motivationspsychologischen Experimenten) postulieren:
- Deprivationsniveau (Zeitspanne seit der letzten Nahrungsaufnahme)
- Eßmotiv (individuelle Neigung zur Nahrungsaufnahme)
- Anreizwert (Bewertung der speziellen Speise)

Diese UVs müßten wir dann irgendwie messen. Hier liegt meist das Problem: Wie mißt man subjektive Variablen wie das Eßmotiv oder den Anreizwert? Meist durch Befragungen - wodurch der Anspruch der "Objektivität" schon wieder angekratzt ist. Nur das Deprivationsniveau kann in diesem Sinne objektiv gemessen werden.

Nun haben wir die UVs beisammen. Wie sieht es mit der AV aus? Wie messen wir Motivation? Wir könnten auch dies mittels Befragungen machen. Aber hier ist auch eine objektive Operationalisierung möglich: indem wir Motivation mit der Latenz der Reaktion (Dauer, bis die Nahrungsaufnahme beginnt) sowie mit der Intensität (Schnelligkeit der Bewegung zur Nahrung hin) operationalisieren. Wir haben also zwei Maße für die Motivation zur Nahrungsaufnahme, die wir unabhängig auswerten (siehe unten).
Mehr als plausibel sind diese Operationalisierungen natürlich nicht: Man könnte z.B. die "Intensität" der Reaktion auch anders operationalisieren, z.B. durch die Schnelligkeit der Nahrungsaufnahme.

Da wir die UVs und die AV quantitativ, also in Zahlen, messen, können wir auch spekulieren, wie die UVs zusammenwirken. Ein Beispiel für ein solches Modell wäre:
Nahrungsaufsuche-Motivation = (Deprivationsniveau x Eßmotiv) + Anreizwert
Soll heißen: Die Höhe der Motivation der Nahrungsaufnahme wird bestimmt durch das Produkt aus Deprivationsniveau und Eßmotiv sowie durch den Anreizwert. Das einemal besteht eine additive (+), das anderemal eine mulitplikative (x) Beziehung.
Durch unser Experiment erheben wir nun Daten, die diese Gleichung auf die Probe stellen. Für jede Variable erhalten wir eine Zahl, so daß sich z.B. bei einer bestimmten Versuchsperson ergibt:
17 = 3 x 5 + 2 (Maß: Latenz)
4 = 3 x 5 + 2 (Maß: Intensität)
Man sieht: Unser Modell wäre für das Maß "Latenz" bestätigt, für das Maß "Intensität" hingegen nicht.

Natürlich ist es schwierig, absolute Maßeinheiten zu finden, die so gut zusammenpassen wie in diesem Beispiel. Meist muß man auf relative Maße ausweichen, wie man dies z.B. aus Intelligenztests kennt: Die Leistung einer Person wird hier relativ zur Durchschnittsleistung einer bestimmten Vergleichsgruppe gemessen.

Jetzt kann das Experiment endlich beginnen. Hier ist unsere Kreativität gefragt: Wie können wir unsere Hypothesen prüfen? Ein Beispiel: Wir lassen Kinder spielen und rufen sie nach einer bestimmten Zeit zum Essen. Das Deprivationsniveau haben wir damit schon gemessen. Für das Eßmotiv und den Anreizwert haben wir, nehmen wir mal an, vorher schon die Eltern befragt (z.B. "Wie gern ißt Ihr Kind die Speise XY?", "Wie gern ißt Ihr Kind allgemein?").
Nun messen wir noch die Latenz und Intensität in der oben beschriebenen Weise. Aber dann fällt uns auf, daß ja vielleicht noch andere Verhaltensdeterminanten (UVs) in dieser Situation eine Rolle spielen könnten: z.B. könnte die Reaktion der Kinder auf das Rufen auch davon abhängen, inwieweit sie dem Ruf gehorchen wollen. Oder objektiver ausgedrückt: Die "Angst vor Bestrafung" spielt vielleicht auch eine Rolle. Also müssen wir auch noch die Angst messen.

So kann die Liste der Variablen ganz schön lang werden. Aber man muß natürlich nicht alles messen. Man kann sich auch sagen: "Ich will ja nur grobe Tendenzen herausfinden, da brauche ich nur die wichtigsten Determinanten."
Andersherum wird im Nachhinein argumentiert, wenn die postulierten quantitativen Verhältnisse nur annäherungsweise stimmen: Man konnte halt nicht alle Determinanten berücksichtigen…

Diese Verlegenheit macht auf die Schwächen dieser Art der Motivationsforschung aufmerksam: Warum man psychologische Größen in ein mathematisches Modell zwängen soll, erscheint nicht recht begreiflich. Hätten wir in den obigen Beispielgleichungen auch die jeweiligen Maßeinheiten (z.B. Sekunden für die Latenz oder gar km/h für die Intensität) vermerkt, wäre dieses Problem noch deutlicher sichtbar geworden.
Allgemein ist zu kritisieren, daß dieser Ansatz - bei aller Präzision - jeweils nur für einen sehr engen Bereich von Verhaltensweisen sinnvoll erscheint. Allgemeine, lebensnahe Vorhersagen kann er kaum machen. Eine Ausnahme stellt vielleicht die Forschung zur Leistungsmotivation dar, auf die wir in Kapitel 3 zu sprechen kommen. Hier stellte sich der experimentelle Ansatz als außerordentlich nützlich heraus - auch für Vorhersagen in der Praxis.

Es geht nun weiter mit der Theorie von Freud...

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