Die Theorie von Freud

Zwei Eigenschaften der Theorie von Sigmund Freud machen es schwer, sie in diesem Rahmen verständlich zusammenzufassen:
Sie ist erstens sehr umfangreich. Man kann kaum Teile weglassen, ohne daß dadurch nicht andere Teile unverständlich werden. Alles hängt mehr oder weniger stark miteinander zusammen.
Und zweitens ist sie sehr komplex. Man kann auch "abstrakt" oder "kontraintuitiv" sagen. Sie erklärt menschliches Verhalten mit Begriffen, die mit unserer alltäglichen Erfahrung sehr wenig zu tun haben. Das ist freilich nichts Schlechtes. Ähnlich versuchte ja auch der Behaviorimus, eine eigene Sprache zur Erklärung menschlichen Verhaltens zu finden, die der übermächtigen Alltagssprache möglichst fernliegt. So werden wir bei der Theorie von Hull (im nächsten Abschnitt) sehen, daß diese kaum weniger umfangreich geraten ist als Freuds - wenn auch wenigstens nicht so komplex.

Wie gehen wir also vor? Um einen ersten Eindruck zu bekommen, schauen wir uns einen Gliederungsversuch der psychoanalytischen Theorie von D. Rapaport an. Er gibt sie anhand von acht Grundannahmen (Axiomen) wieder:

1. Das Objekt der Psychoanalyse ist Verhalten.
Sie zeichnet sich durch die Annahme einer psychologischen Determiniertheit von allem Verhalten aus, d.h. alles Verhalten ist motiviert, nichts passiert zufällig. Freud braucht für diesen Determinismus die Annahme von unbewußten Prozessen (s. Axiom 5).
2. Jedes Verhalten ist unteilbar, ist also mehrfach determiniert, nicht einfach nur Verhalten einer Instanz.
3. Kein Verhalten ist isoliert. Alles Verhalten ist Teil der unteilbaren Persönlickeit.
4. Alles Verhalten ist Teil einer genetischen Reihe.
5. Die entscheidenden Determinanten des Verhaltens sind unbewußt.
6. Alles Verhalten ist letzten Endes triebbestimmt.
7. Alles Verhalten führt seelische Energie ab und wird durch seelische Energie reguliert.
8. Alles Verhalten hat strukturelle Determinanten, ist durch Konflikte bestimmt.

So weit ein erster Überblick, der natürlich nicht zu tieferem Verständnis führen kann. Fangen wir also irgendwo an. Am besten bei den Trieben (vgl. Axiom 6), denn diese sind es ja, die für die Motivationspsychologie von besonderem Interesse sind. (Streifen werden wir außerdem die Axiome 1, 2, 5, 7 und 8.)

Dynamischer Aspekt: Triebkonzeption

Erstens: Was sind Triebe?
Triebe sind Kräfte, die ihren Ursprung in einer
körperlichen Triebquelle (die nicht Gegenstand der Analyse ist) haben und sich psychisch repräsentieren z.B. durch einen Impuls ("Drang").
Sie suchen ihr Ziel in der
Befriedigung, also der Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle. Dafür sind sie auf ein Objekt angewiesen, durch welches sie ihr Ziel erreichen. Dieses Triebobjekt ist relativ variabel, also austauschbar; es wechselt im Laufe der ontogenetischen Entwicklung. (Ein Instinkt ist dagegen an ein Objekt fixiert.) Die Objekte werden mit psychischer Energie besetzt (vgl. Axiom 7), was man als "Kathexis" bezeichnet. Die Energie des Sexualtriebs nannte Freud beispielsweise "Libido".

Hier noch einmal die Bestimmungsstücke des Triebes:
- Quelle: ist somatischer Natur, nur durch die Biologie weiter spezifizierbar
- Drang: Begierde, mit der sich die Triebhandlung vollzieht; Hunger ist z.B. der Ernährungs-Drang
- Objekt: ist das, woran sich die Triebhandlung vollzieht; es ist das variabelste am Trieb
- Ziel: ist die Handlung, nach welcher der Trieb drängt (also die Befriedigung des Reizzustandes an der Quelle)
Zeitliche Abfolge: Quelle - Drang - Objekt (Umwelt) - Ziel/Abfuhr

Triebe haben konservierenden Charakter, sie kommen also immer wieder. Dieser zyklische Charakter drückt sich verhaltensmäßig im "Wiederholungszwang" aus. Der Organismus ist bestrebt, den "störenden" Trieb zu beenden und in den Gleichgewichtszustand zurückzukehren ("Homöostase").

Zweitens: Welche Triebe gibt es?
Freud änderte sein Modell darüber, welche Triebe man beim Menschen findet, sehr häufig. Diese Unsicherheit ist vor allem dadurch zu erklären, daß er seine Modelle nicht auf empirischer Basis aufstellt, sondern nach Nützlichkeit zur Erklärung klinischer, später auch gesellschaftlicher Phänomene. Weil er die Triebquellen als körperlich ansieht, hätten empirische Belege allerdings auch nur aus der Biologie erwartet werden können.
Trotz aller Änderungen blieb dennoch Freuds Triebmodell (das wir motivationspsychologisch auch als "Motivklassifikation" verstehen können) immer dualistisch, d.h. es sind immer
zwei Triebe, die sich gegenüberstehen. Die folgene Übersicht zeigt die zwei wichtigsten Triebmodelle in ihrer historischen Reihenfolge.

1. Konzeption: Sexualtrieb Selbsterhaltungstrieb  
2. Konzeption: Lebenstrieb (Eros) Todestrieb (Thanatos)

Anfangs führte Freud vieles auf den "Sexualtrieb" zurück, wobei er den Begriff der Sexualität sehr weit faßte, so daß er z.B. auch freundschaftliches Verhalten und "Liebe" enthielt. Der Selbsterhaltungstrieb hingegen äußert sich in Verhaltensweisen wie Nahrungsaufnahme und Schutzsuchen.
Die andere Konzeption (Lebenstrieb vs. Todestrieb) läßt sich nicht ohne weiteres Ausholen erläutern. Aus der Tabelle wird aber immerhin deutlich, daß sie der vorigen konzeptionell übergeordnet ist: Der Lebenstrieb schließt Sexual- und Selbsterhaltungstrieb ein.

Die Befremdung darüber, daß Freud viele Verhaltensweisen auf sexuelle Motivationen zurückführte, war zu seiner Zeit enorm und dauert noch bis heute an. Dabei ist unbestritten, daß Freud als erster erforschte, daß auch Kleinkinder schon Sexualität besitzen. Die Übertragung auf Erwachsene ist freilich kühn, aber auch nicht völlig abwegig.
Wichtig zum Verständnis des freudschen Triebbegriffs ist auch, daß Triebe selten allein auftreten, sondern nahezu immer gemischt, d.h. sie neutralisieren sich z.T. gegenseitig. Nur bei Psychosen und Perversionen treten, so Freud, Triebe "rein" auf und können ihre volle Kraft entfalten.

Die topischen Modelle

Wie stellt sich Freud die Psyche, die Persönlichkeit eines Menschen vor? Hier müssen wir zwei (historisch nacheinander entstandene) Konzeptionen unterscheiden, zwei sogenannte "topische Modelle". Beide unterteilen die Psyche in drei Teile, aber in jeweils unterschiedliche:

Erstes topisches Modell:
drei Systeme
Zweites topisches Modell:
drei Instanzen
- System Unbewußt (Ubw)
- System Vorbewußt (Vbw)
- System Bewußt (Bw)
- Es
- Ich
- Über-Ich

Ubw ist jener Teil des psychischen Apparats, dessen Inhalte ("Vorstellungen") unbewußt sind. Unbewußt (in diesem engeren Sinne) heißt, sie kommen trotz ihrer großen Intensität und Bedeutsamkeit nicht ins Bewußtsein. Vbw umfaßt ebenfalls Vorstellungen, die der Person nicht bewußt sind, jedoch aus einem anderen Grund: weil sie zum gegebenen Zeitpunkt zu unbedeutend sind. Sie sind aber - im Gegensatz zu den unbewußten Vorstellungen - bewußtseinsfähig, d.h. sie können später ins Bw gelangen. Bw ist mit "Bewußtsein" gleichzusetzen; es umfaßt also bewußte Vorstellungen.

Die Psychoanalyse befaßt sich nach Freud vor allem mit unbewußten psychischen Vorgängen, auch weil Bewußtes allein nicht deterministisch zu erklären ist (siehe Axiom 1). Naturwissenschaft wird somit theoretisch möglich, aber methodisch wird alles um so schwieriger...

Das Bewußtsein erhält - als Teil von Vbw - nach dieser Sichtweise lediglich die Rolle eines Sinnesorgans zur Wahrnehmung psychischer Vorgänge. Ubw und Vbw sind dagegen die eigentlich wichtigen Systeme. Ersteres funktioniert nach dem Lustprinzip, letzteres nach dem Realitätsprinzip. Eine vorbewußte Vorstellung ist mit Wörtern verknüpft, eine unbewußte nicht. Die Verknüpfung mit Sprache stellt auch die eigentlich definierende Unterscheidung zwischen beiden Systemen dar, die sicherlich auch aus heutiger Sicht noch interessant ist.

Verdrängung ist ein Prozeß an der Grenze der beiden Systeme. Ein vorbewußter Gedanke wird Opfer der Zensur. Die Sachvorstellung wird von der zugehörigen Wortvorstellung abgelöst, ihm wird die Übersetzung in Worte verweigert.
Die Verdrängung ist ein erschlossener Prozeß, abgeleitet aus der Beobachtung des Widerstandes, welcher sich - z.B. in Therapie - der Bewußtwerdung des Verdrängten entgegenstellt. Es wird also angenommen, daß dieselben Kräfte, die sich nun gegen die Wieder-Bewußtmachung stellen, früher die Verdrängung bewirkten.
Die verdrängten Gedanken versuchen sich aber gegen den Widerstand dem Bewußtsein als entstellte "Abkömmlinge" aufzudrängen: in neurotischen Symptomen, manifestem Trauminhalt oder auch Fehlleistungen wie dem "Freudschen Versprecher".
Diese assoziative Verknüpfung zwischen Verdrängtem und Symptom erleichtert eine Erkundung des Ubw z.B. in der Therapie.

Das zweite topische Modell ist sicherlich das bekanntere. Es ist zwar sehr prägnant, aber dafür weniger klar definiert. Hier die drei "Instanzen" und ihre Merkmale in Kürze:
- Es: psychische Repräsentation der Triebe, funktioniert nach dem Lustprinzip (hedonistisch); strebt nach sofortiger Triebbefriedigung
- Ich: Vereinbart Interessen des Es, Über-Ichs und der Außenwelt; Realitätsprinzip ("kalkulierend", prüft, ob Gelegenheit zur Triebbefriedigung da ist)
- Über-Ich: Umfaßt das Gewissen (moralische Vorschriften) sowie das "Ich-Ideal" (ideale Strebungen); Moralitätsprinzip ( prüft, ob etwas gut oder schlecht ist und kritisiert)

Zusammenspiel von Es und Ich: Das Ich muß die Außenwelt beobachten und Erinnerungen festhalten. Meldet nun das Es ein Bedürfnis an, prüft das Ich mittels Denken (anhand der Erinnerungen) die Möglichkeit einer Bedürfnisbefriedigung und regt dann eventuell die entsprechende Handlung an. (Gegebenenfalls muß es die Gebote des Es mit vorbewußten Rationalisierungen verkleiden.) Dieses Realitätsprinzip verspricht mehr Sicherheit und größeren Erfolg im Umgang mit der Umwelt.

Zusammenspiel von Über-Ich und Ich: Auch das Über-Ich stellt Forderungen an das Ich, ohne die Realität zu berücksichtigen, indem es das Ich zu Denk- und Verhaltensnormen zwingt. Was beim Konflikt mit dem Es das Symptom (Kompromiß) ist, ist beim Konflikt mit dem Über-Ich Minderwertigkeitsgefühl und Schuldbewußtsein.

Das Ich steht also in einem Konflikt dreier Auftraggeber: Es, Über-Ich und Außenwelt. Das Ich muß versuchen, alle Interessen zu berücksichtigen, Harmonie zu bewahren.
Das Ich ist - wie es oft metaphorisch ausgedrückt wurde - "nicht Herr im eigenen Haus". Es kann aber die Anforderungen mehr oder weniger gut erfüllen. Kinder sind meist noch nicht gut dazu in der Lage, lernen es aber im Laufe ihrer Entwicklung. Auch in der psychoanalytischen Therapie steht im Zentrum, daß der Patient lernt, sich gegen unbewußte Triebwünsche und fesselnde Moralvorstellungen besser durchsetzen, sich nicht von ihnen dominieren zu lassen.

Abwehrmechanismen

Wie wehrt sich das Ich gegen die ständigen Wünsche des Es? Indem es verschiedenste Abwehrmechanismen entwickelt. Den wichtigsten und bekanntesten haben wir schon im Rahmen des ersten topischen Modells erläutert: die Verdrängung.

- Verdrängung: Völliges Ausschließen der Triebregung aus dem Bewußtsein, "aktives Vergessen". Da das Verdrängte weiterhin im Unbewußten mit Energie besetzt bleibt, muß das Ich weiterhin Energie zur Verdrängung aufwenden (Gegenbesetzung). Die Verdrängung versagt also, wenn die Triebbesetzung zunimmt (z.B. in der Pubertät oder in "Verführungssituationen") oder die Gegenbesetzung abnimmt (z.B. unter Alkohol).
- Projektion: Die eigene Triebregung wird einer anderen Person zugeschrieben. Die Folge können Vorurteile oder Verfolgungswahnideen sein. Die Fähigkeit des Ich zur Realitätsprüfung wird gemindert.
- Wendung gegen das Selbst: Eine aggressive Triebregung wird gegen sich selbst gewendet (um sich selbst vor den Konsequenzen zu schützen). Man identifiziert sich also mit dem Objekt. Jene Konsequenz kann bei Aggression die Rache des anderen, bei einem Ehestreit der Liebesentzug des Partner sein. Im letzteren Fall würde sich also der unschuldige Partner schuldig bekennen...
- Regression: Ein Konflikt zwischen Ich und Es wird durch Rückkehr zu Bewältigungsformen früherer Phasen gelöst.
- Verleugnung: Ein unerwünschter Teil der Realität wird mit Hilfe einer wunscherfüllenden Phantasie geleugnet. Verleugnung ist somit das Gegenstück zur Verdrängung.
- Intellektualisierung: Affekte (Emotionen) werden abgewehrt bzw. verleugnet.

Experimentelle "Prüfung"

Wie im letzten Abschnitt schon kurz angedeutet wurde, haben zwar viele Psychologen über Freuds unkonventionelle Methodik die Nase gerümpft. Dennoch strahlten viele Thesen Freuds eine große Faszination auf die Nachwelt aus. Die Abwehrmechanismen sind vor allem für kognitive Psychologie von großem Interesse - beschreiben sie doch ziemlich genau das, was wir heute als "kognitive Verzerrung" oder Ähnlichem bezeichnen.
Wie gleich deutlich werden wird, haben die experimentellen Prüfungen der kognitiven Psychologen mit Freuds Thesen freilich nur die Grundidee gemeinsam. So fremd den kognitiven Psychologen Freuds Methoden sind, so hätte sicherlich auch Freud mit ebenso großer Ablehnung auf die Experimente reagiert, von denen wir nun eines exemplarisch beschreiben werden.

Beispielsweise wurde in einer Studie von Lazarus, Opton, Nomikos und Rankin aus dem Jahre 1965 den Probanden ein Film über Unfälle am Arbeitsplatz gezeigt. Während das visuelle Material für alle Teilnehmer gleich war, wurde die vorhergehende Ankündigung des Films variiert.
Einigen Probanden wurde der Film als das angekündigt, was er - realistischerweise - auch war: eine Dokumentation schrecklicher Unfälle, die Unlust verursachen.
Bei einer zweiten Gruppe von Probanden wurde vorher die Bedeutung der Darstellung heruntergespielt, indem darauf hingewiesen wurde, daß der Film ja nur gestellt sei, die Unfallopfer nur Schauspieler seien. Hiermit sollten die Probanden zur Verleugnung angeregt werden.
Einer dritten Gruppe wurde empfohlen, sie möge die dargestellten Ereignisse möglichst objektiv und sachlich betrachten. Ihnen wurde somit eine Intellektualisierung nahegelegt.

Wie sehr gelang nun die Abwehr der unangenehmen Bilder? Dies wurde durch Messung der Hautleitfähigkeit gemessen. Diese ist ein gängiges physiologisches Maß für affektive Erregung (die ja nach Freud durch Abwehrmechanismen vermieden werden soll). Und tatsächlich zeigte sich, daß die beiden Gruppen, denen Abwehrmechanismen induziert worden waren, geringeren Hautwiderstand zeigten als die andere Gruppe.
Dieses Ergebnis spricht demnach für das Wirken der beiden untersuchten Abwehrmechanismen - so deuten es zumindest die Autoren. Denn was hier untersuchte wurde, war ja weniger, ob Personen Abwehrmechanismen einsetzen, sondern eher, ob sie sich zu Abwehrmechanismen verleiten lassen. Dies ist zwar nicht dasselbe, aber es ist auch nicht so verschieden, daß man die Studie als wertlos abtun könnte. Zumal viele anderen Studien zu ähnlichen Ergebnissen kamen.

Ausblick

Die Psychoanalyse kann man nicht an einem Tag verstehen lernen. Noch weniger auf einer html-Seite. Weil sie für die Motivationspsychologie keine große Bedeutung mehr hat, haben wir auf eine ausführlichere Darstellung verzichtet. Daß auf diese Weise längst nicht alles verstanden werden konnte, sollte den Leser und die Leserin nicht beunruhigen!
Dennoch lohnt es sich, sich mit der Psychoanalyse näher auseinanderzusetzen. Der Siegeszug der Psychoanalyse in der Mitte des Jahrhunderts war ebenso übertrieben wie ihre heutige Verdammung aus den Universitäten. Wer also mehr über sie wissen will, dem sei z.B. das kompakte einführende Büchlein "Freuds Psychoanalyse" von Thomas Köhler empfohlen.

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