Die Theorie von Weiner

Welche Attributionen führen zu welchen Emotionen? Das ist die Frage, die sich eine attributionale Emotionstheorie stellt. Dafür müssen wir uns zunächst genauer klarmachen, was Attributionen denn überhaupt sind.

Fritz Heider erkannte 1958 als erster, daß die Art und Weise, in der wir uns unsere Welt erklären, unser Verhalten bestimmt. Wenn ich ein Gewitter als Strafe Gottes ansehe, werde ich mich ihm gegenüber wohl anders verhalten, als wenn ich auf naturwissenschaftliche Erklärungen vertraue. Ebenso in zwischenmenschlichen Beziehungen, für die sich Heider besonders interessierte: Wenn mir eine Person im Straßenverkehr die Vorfahrt nimmt und ich bremsen muß, kann ich ihr Verhalten entweder als absichtsvoll oder als versehentlich deuten. Wieder werde ich mich unterschiedlich verhalten - und wohl auch unterschiedliche Emotionen haben: Schreibe ich der Person Absicht zu, werde ich ärgerlich. Schreibe ich keine Absicht zu, bin ich vielleicht nur erschrocken oder habe gar Mitleid mit der tölpelhaften Person.

Solche Kausalerklärungen im Alltag nennt man Kausalattributionen, oder kurz: Attributionen. Die (wissenschaftliche) Richtigkeit dieser Attributionen spielt dabei keine Rolle. Wie ich mich verhalte, hängt von meiner Meinung über die Realität ab - nicht von der Realität selbst. Ganz abgesehen davon ist "die Realität" von der Wissenschaft in vielen Fällen ohnehin kaum festzustellen, siehe z.B. obiges Beispiel.

Im Gegensatz zu Ansätzen in der Sozialpsychologie, die sich mit der Entstehung von Attributionen beschäftigen, geht es in Ansätzen der Emotions- und Motivationspsychologie um die Auswirkungen von Attributionen, eben die Auswirkungen auf Emotion bzw. Motivation. Dementsprechend unterscheidet man auch zwischen Attributionstheorien und attributionalen Theorien.

Emotionsentstehung: sequentieller kognitiver Interpretationsprozeß

Wie entstehen nach Weiner Emotionen? Weiner meint, daß wir, bevor wir eine Emotion erleben können, das zugrundeliegende Ereignis erst hinsichtlich ganz bestimmter Fragen bewertet haben müssen. Diese "Fragen" laufen in ganz bestimmter Reihenfolge routinemäßig "in unserem Kopf" ab. Nach der Wahrnehmung des Ereignisses unterscheidet Weiner folgende drei Bewertungen:

1. Bewertung in bezug auf Zielerreichung
--> ereignisabhängige Emotion (z.B. Zufriedenheit)
2. Zurückführen auf Ursachenfaktor
--> attributionsabhängige Emotion (z.B. Überraschung)
3. Einordnen des Ursachenfaktors auf Dimensionen
--> dimensionabhängige Emotion (z.B. Stolz)

Im ersten Schritt schätzt die Person ein, ob das Ziel, das sie verfolgte, mit dem wahrgenommenen Ereignis erreicht worden ist.
Wenn wir unser Beispiel vom vorigen Abschnitt wieder aufgreifen, so ist dies beim Lob des Dozenten für die gute Hausarbeit sicherlich der Fall. Die Person ist daraufhin zufrieden oder auch glücklich. Diese "einfachen" emotionalen Zustände bezeichnet Weiner als ereignisabhängige Emotionen.

Der zweite Schritt, der nach Weiner besonders bei (für die Person) negativen, unerwarteten oder wichtigen Ereignissen gewählt wird, besteht darin, daß die Person das Ereignis auf einen bestimmten Ursachenfaktor zurückführt: auf eigene Fähigkeit, eigene Anstrengung, die Schwierigkeit der Aufgabe oder Zufall.
Wenn ich in nun in unserem Beispiel das gute Abschneiden in der Hausarbeit auf meine eigene Fähigkeit zurückführe, habe ich ein "Gefühl der Kompetenz", so Weiner. Führe ich es auf Zufall zurück, so erlebe ich Überraschung. Dabei bleibt aber in jedem Fall die ereignisabhängige Emotion bestehen; sie wird von der nun hinzutretenden attributionsabhängigen Emotion lediglich überlagert.

Der dritte Schritt besteht darin, daß der gefundene Ursachenfaktor in die drei Dimensionen Lokation, Stabilität und Kontrollierbarkeit eingeordnet wird. Das heißt, daß die Person sich folgende drei Fragen stellt und beantwortet:
- Liegt die Ursache (in unserem Beispiel: eigene Fähigkeit) bei mir selbst oder bei anderen (intern vs. extern)?
- Ist die Ursache (in unserem Beispiel: eigene Fähigkeit) über die Zeit hinweg stabil oder variabel?
- Ist die Ursache (in unserem Beispiel: eigene Fähigkeit) für mich kontrollierbar oder nicht?
In unserem Beispiel sollte die Person, so Weiner, auf das Ergebnis kommen, daß die eigene Fähigkeit intern, zeitstabil und nicht kontrollierbar ist. Hätte sie auf eigene Anstrengung hin attribuiert, wäre ihr Ergebnis "intern, variabel, kontrollierbar" gewesen. Wegen der internen Attribution erlebt die Person aber in jedem Fall Stolz (dimensionsabhängige Emotion).

Die genauen Vorstellungen Weiners, welche Art von Attribution welche Emotion auslöst, sind für uns nicht weiter von Interesse. Wichtig ist nur zu verstehen, wie Weiner sich die Emotionsentstehung vorstellt: als Abfolge von Bewertungen.
Die Stärke dieser Annahme ist sicherlich die Plausibilität: Daß wir ein paar Informationen verarbeiten müssen, bevor wir komplexe Emotionen erleben können, leuchtet ein. Die Schwäche der Grundannahmen Weiners hängt aber unmittelbar damit zusammen: Weiners Theorie beruht auf keiner empirischen Basis und kann auch kaum befriedigend empirisch getestet werden (außer durch Fragebögen, die ja nur das Sprachverständnis der Probanden prüfen können); ja man hat das Gefühl, Weiner expliziere uns lediglich die Bedeutung der Emotionswörter, verlagert diese aber in die Köpfe der Menschen... Wir werden auf diese Kritik am Ende dieses Kapitels zurückkommen.

Immerhin erscheint zumindest das Vokabular Weiners brauchbar, was sich in den durchaus fruchtbaren Anwendungen seiner Theorie widerspiegelt, die wir im folgenden darstellen werden...

Allgemeine & Theoretische Psychologie
Emotion
1.1 Was sind Emotionen?
1.2 Funktion von Emotionen
1.3 Klassifikation
2.1 Behavioristische Emotionstheorien
2.2 Kognitiv-physio. Emotionstheorien
2.3 Attributionale Emotionstheorien
2.4 Evolutionspsy. Emotionstheorien
3 Gesichtsausdruck
4 Auswirkungen
Literatur
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