Dritter Weg: Lieber eine unvollkommene Definition als 92 vollkommene!

Wenn man versuchen will, die Emotionstheorien der eben vorgestellten Psychologen zu integrieren, ist eine einheitliche Emotionsdefinition notwendig.
Daher wird häufig eine vorläufige Definition vorgenommen, eine sogenannte Arbeitsdefinition, die für möglichst viele Forscher akzeptabel sein soll.

"Arbeitsdefinition" soll heißen: "Definition zum Arbeiten". Man geht nämlich davon aus, daß durch das Arbeiten (sprich: empirische Forschung) die Definition sich immer weiter von selbst ergibt. Eine exakte Definition ist nach dieser Ansicht nicht Voraussetzung, sondern Resultat wissenschaftlicher Analyse.
Die Arbeitsdefinition dient also nur zur Phänomenbeschreibung und groben Abgrenzung des Forschungsgebietes. Wir geben nun ein Beispiel für eine Arbeitsdefinition aus dem Lehrbuch von Meyer, Schützwohl und Reisenzein (1993) wieder. Sie besteht aus zwei Teilen:

1. Emotionen sind Vorkommnisse von z.B. Freude, Traurigkeit, Ärger, Angst, Mitleid, Enttäuschung, Erleichterung, Stolz, Scham, Schuld, Neid sowie von weiteren Arten von Zuständen, die den genannten genügend ähnlich sind.

2. Diese Phänomene haben folgende Merkmale gemeinsam: (a) Sie sind aktuelle Zustände von Personen; (b) sie unterscheiden sich nach Art oder Qualität und Intensität (...); (c) sie sind in der Regel objektigerichtet (...); (d) Personen, die sich in einem der genannten Zustände befinden, haben normalerweise ein charakteristisches Erleben (Erlebensaspekt von Emotionen), und häufig treten auch bestimmte physiologische Veränderungen (physiologischer Aspekt von Emotionen) und Verhaltensweisen (Verhaltensaspekt von Emotionen) auf.

Der erste Teil der Definition gibt Beispiele für Emotionen, die uns aus dem Alltag vertraut sind und uns daher einleuchten, uns aber wissenschaftlich nicht viel weiterbringen.
Der zweite Teil der Definition zählt einige definierende Merkmale von Emotionen auf, die ich nun kurz näher erläutern werde:

Emotionen sind aktuelle Zustände von Personen
Hiermit sollen Emotionen von emotionalen Dispositionen abgegrenzt werden: Während man Angst als Emotion (hier kontrastierend auch: emotionale Episode) bezeichnet, wäre die zugehörige emotionale Disposition Ängstlichkeit. Gemeint ist also das einemal ein aktueller Zustand der Person, das anderemal die Eigenschaft der Person, häufig Angst zu haben.

Emotionen unterscheiden sich nach Qualität und Intensität
Mit der Qualität einer Emotion ist die Unterscheidung in Kategorien wie "Trauer", "Angst", "Freude" etc. gemeint. Im Alltag verwenden wir meist nur diese Kategorien. Kaum jemand sagt doch: "Ich habe eine Emotion!", sondern lieber gleich: "Ich bin wütend!"
Die Intensität kann ebenfalls als Unterscheidungsmerkmal zwischen verschiedenen emotionalen Episoden verwendet werden: "Beim ersten Mal tat es noch weh, beim zweiten Mal nicht mehr so sehr" ist eine bekannte Schlagerzeile, in der eben dieser Vergleich getroffen wird. (Mit "wehtun" ist hier höchstwahrscheinlich kein körperlicher Schmerz, sondern eine Emotion wie Liebeskummer oder Trennungsschmerz gemeint.)
Wir können allerdings unsere Emotionen sinnvoll nur ordinal anordnen ("das hat mich mehr gefreut als..."), nicht aber metrisch ("das hat mich siebenmal mehr gefreut als...").

Emotionen sind in der Regel objektgerichtet
Emotionen beziehen sich meistens auf Dinge: Man freut sich über etwas, ist stolz auf etwas, trauert um etwas etc. Dieses "Etwas" muß nicht konkret existieren, sondern kann auch vorgestellt sein: Z.B. kann allein die Vorstellung an eine zukünftige Prüfung Angst bereiten.

Emotionen kennzeichnen den Zustand der betroffenen Person durch:
- ein charakteristisches Erleben
- bestimmte physiologische Veränderungen
- bestimmte Verhaltensweisen
Auf diese drei "Komponenten" (in etwa synonym: "Aspekte", "Dimensionen") einer Emotion wurde bereits im zweiten Weg eingegangen. Wichtig ist, daß jede dieser Komponenten laut dieser Definition vorhanden sein kann, nicht aber sein muß.

Literaturangaben:
- Meyer, Schützwohl & Reisenzein (1993), S. 22-32 und 36-39 (sehr gut geeignet als Überblick!)

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Allgemeine & Theoretische Psychologie
Emotion
1.1 Was sind Emotionen?
1.2 Funktion von Emotionen
1.3 Klassifikation
2.1 Behavioristische Emotionstheorien
2.2 Kognitiv-physio. Emotionstheorien
2.3 Attributionale Emotionstheorien
2.4 Evolutionspsy. Emotionstheorien
3 Gesichtsausdruck
4 Auswirkungen
Literatur
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