Rede der AbsolventInnen auf der 14. Diplomfeier am 14.12.2012 am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg
von Dipl.-Psych. Stephanie Tremmel und Dipl.-Psych. Max Vetter
Liebe Absolventinnen und Absolventen,
liebe Eltern, Angehörige und Gäste,
liebe Professorinnen und Professoren,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Psychologischen Instituts,
auch von uns ein herzliches Willkommen zur Diplomfeier. Es freut uns, dass wir heute in diesem Rahmen noch einmal zusammenkommen, um uns und unser Diplom zu feiern. Bei einigen von uns liegt es vielleicht schon einige Monate zurück, andere haben es ganz frisch in der Tasche. Manchmal dauert es auch eine Weile bis man registriert, dass das Studium nun vorbei ist. Wenn die erste Post an Frau Diplom-Psychologin XY kommt oder auf dem Türschild bei der Arbeit plötzlich Dipl.-Psych. steht, dann dämmert es einem langsam, dass der Lebensabschnitt Studium nun wohl wirklich vorüber ist. Wenn man dann noch vom Rechenzentrum mitgeteilt bekommt, der eigene Uni Heidelberg Account werde nun geschlossen, dann wird ziemlich klar: Aus, vorbei, das wars. Aber wie wars denn? Woran werden wir uns mit 64 noch erinnern und was ist dem Vergessen zum Opfer gefallen? Einen kompletten Rückblick zu geben, das würde jeden Rahmen sprengen und das eine Studium gibt es wohl nicht. Zu unterschiedlich waren unsere Schwerpunkte und Studienabschnitte und zu heterogen ist das Fach, das wir alle hier nun erfolgreich abgeschlossen haben.
Ein bisschen erinnert unser Weg an Monopoly. Da startet man auf einem leeren Spielfeld, kauft Straßen, baut zaghaft erste Häuser und Hotels und wenn es dann so richtig läuft, heißt es oft „Gehen Sie zurück auf Los“. Wir allerdings rücken vor auf „Los“ und stehen heute auf einem anderen, einem neuen Spielfeld. Unsere Stationen auf dem alten Feld hießen nicht Elektrizitäts- und Wasserwerk, sondern Auslandssemester und Praktikum, Diplomarbeit und Hiwi-Job. Wir kauften keine Bahnhöfe, aber verbrachten einige Stunden in Zügen – sei es nach Hause, beim täglichen Pendeln, zu Konferenzen oder Freunden. Und was die Mietpreise in Heidelberg angeht fühlten und fühlen wir uns tagtäglich wie die Bewohner der Schlossallee.
Eine ausgiebige Partie Monopoly ist gespielt, aber wie war das denn damals als wir das Spiel begannen und die ersten Spielzüge machten? Vor 10, 11, 12 Semestern starteten wir auf diesem Spielfeld und wussten noch nicht, welche Straßen unser Interesse wecken werden oder wo es sich gut Häuser bauen lässt. Wir zitieren aus dem Tagebuch eines unbekannten Erstsemesters...
Unsicher laufe ich durch das Hintergebäude, ein grauhaariger Mann gefolgt von einem knappen Dutzend Gänsen begegnet mir. Das muss das Praxisseminar Bindungstheorien von Konrad Lorenz sein, denke ich. Ich aber bin auf der Suche nach dem Tutorium zur Vorlesung „Menschen analysieren und durchschauen 1“, meine Berufsziele sind Geheimagent oder Pokerspieler.
Aus einem Übungsraum dringt gedämpftes Gemurmel. Aha, hmm, ja, das heißt also, habe ich das richtig verstanden, schnappe ich auf. Ich verstehe nur Barnow äh Bahnhof. Wo ist denn nun mein Tutorium? Ich frage eine Studentin: „Entschuldige, ich bin auf der Suche nach...“, weiter komme ich nicht, sie unterbricht mit ruhiger Stimme und erwidert: „Ich möchte diese Frage gerne an dich zurückgeben – was bedeutet denn für dich ‚auf der Suche sein‘?“ „Schnell weiter“, denke ich und mache kehrt. Sie folgt mir und möchte mir bis zu unserem nächsten Treffen gerne eine Hausaufgabe geben. Ich solle mich mit meiner Suche konfrontieren. Aber ich bin schneller und gehe kurzerhand in den nächstbesten Raum.
Hier scheint man Vokabeln zu lernen. Der Dozent erklärt gerade, dass Trotz „Reaktanz“ heiße und bittet eine Studentin zu übersetzen: „Mir geht’s heute echt beschissen.“ Wie aus der Pistole geschossen antwortet die Studentin: „Antrieb und Affekt sind zum Zeitpunkt t1 deutlich gemindert.“ In der Reihe vor mir gesteht ein Student seinem Kommilitonen derweil, dass er alle Vokabeln vergessen habe und wird prompt verbessert: „Du hast ein selektives recall Problem“. „Junge, Junge“, denke ich und höre beim Verlassen des Raumes noch, dass Annäherungsversuche hier „approach behavior“ heißen.
Im Nachbarraum findet gerade das Projektseminar „Irgendwas mit Menschen machen“ statt, aber auch hier werde ich nicht fündig bei meiner Suche nach dem Tutorium „Menschen durchschauen“. Währenddessen füllt es sich nun langsam auf den Fluren. Nervöse Studenten murmeln Unverständliches vor sich hin: „Mof Zup Rim Zap“, höre ich und lasse mir von einer Kommilitonin erklären, dass man hier gerade sinnfreie Silben für das Tutorium Gedächtnispsychologie lerne.
Ich beschließe, meine Suche für heute aufzugeben, auch weil ich in wenigen Minuten einen Termin in der Sozialpsychologie habe. Dort wolle man in einem „spannenden Experiment“ testen, wie sich elektrische Spannung auf die menschliche Lernfähigkeit auswirke, so der Flyer. Diese Chance auf Versuchspersonenstunden lasse ich mir natürlich nicht entgehen und mache mich gespannt auf den Weg ins Vordergebäude...
Nicht nur in den ersten Semestern sammelten wir so unsere ganz persönlichen Ereignis- und Gemeinschaftskarten unseres Monopolys, mischten sie neu und warteten auf den „Bankirrtum zu Ihren Gunsten“. Der kam leider seltener, dafür der Politikirrtum zu Ihren Ungunsten: Zahlen Sie 500 Euro Studiengebühren oder gehen Sie ins Gefängnis. Wir zahlten. Auch wenn wir alle wissen, dass Monopoly ein Glücksspiel ist, in den 626 Jahren Uni Heidelberg haben wir genau die 5 Jahre mit allgemeinen Studiengebühren erwischt, das macht 0,8 % der Zeit, die diese Hochschule existiert und 100 % unserer Regelstudienzeit – wenn das kein Timing ist.
Trotz aller Tradition an der ältesten Hochschule Deutschlands konnten auch wir einige Veränderungen feststellen: Die Mensa servierte zu Studienbeginn ihr Essen noch direkt auf den Tabletts und schien damit nicht nur räumlich sehr nah am Gefängnis. Heute hat der Teller die Vertiefung im Tablett ersetzt. Wer wollte, konnte bis vor nicht allzu langer Zeit in der Eingangshalle im Vordergebäude nach Herzenslust rauchen und immerhin drei der jetzigen zehn Professoren wurden später Mitglieder dieser Uni als wir es wurden. Fast schon anarchisch ging es zu unserem Studienbeginn nach 22 Uhr zu. Der Verkauf von Alkohol war gestattet und brachte allabendlich die öffentliche Ordnung Baden-Württembergs an ihre Grenzen.
Neben diesen äußeren Veränderungen veränderte sich auch innerlich eine Menge. Wir versuchen das Phänomen längsschnittlich zu betrachten:
Mit 12 war ich fest davon überzeugt, dass – wenn ich erst einmal 17 sein würde – das Leben in geregelten Bahnen laufen würde. Ich wurde 17 und das Leben lief, nur eben nicht in geregelten Bahnen. Man richtet sich ein, wird Abiturientin oder Abiturient und überblickt das Spielfeld irgendwann ziemlich gut. Doch genau dann geht es wieder auf Los, in unserem Falle auf das Los an der Uni Heidelberg.
Ich wusste zwar mittlerweile, dass mit 17 nicht alles so einfach war wie ich mit 12 gedacht hatte, aber Diplomanden erschienen mir als Erstsemester schon ein bisschen wie allwissende Halbgötter. „Wenn ich da erst angekommen bin, dann ist vermutlich alles klar für den Rest des Lebens“, dachte ich. Doch heute heißt es wieder zurück auf Los und zum ersten Mal bin ich tatsächlich davon überzeugt, dass auch in drei oder vier Jahren, promoviert, als Therapeut, Schulpsychologe, Coach oder Personaler nicht „alles klar“, sondern noch die eine oder andere Partie Monopoly zu spielen sein wird.
Selbstaktualisierung, so haben wir im Sprachkurs Psychologie-Deutsch, Deutsch-Psychologie gelernt heißt dieses Phänomen. Dass wir trotzdem noch ein bisschen so sind, wie wir mit 12 oder 17 waren, liegt an relativ zeitstabilen Traits, und dass wir uns auch in Zukunft weiter verändern werden, ist den veränderten situativen Kontexten geschuldet, in die wir uns nun allesamt aufs Neue begeben oder schon begeben haben.
Dass wir in Heidelberg, im Studium und in der Psychologie eine Menge gelernt haben – davon sind wir überzeugt und das sollten wir auch selbstbewusst vertreten. Dass Vieles von dem, was wir gelernt haben in 40 Jahren vergessen ist oder widerlegt wurde ist auch gewiss: Vor 200 Jahren wurde man mit der These, dass sich Charaktereigenschaften an der Schädelform erkennen ließen, meistzitiert, vor 100 Jahren war man soweit, den Körperbau als temperamentsbestimmend anzusehen und es soll noch heute Menschen geben, die an den „Homo Oeconomicus“ und seine Fähigkeit zum rationalen Entscheiden glauben.
Wir wünschen uns Absolventinnen und Absolventen, dass wir nicht nur uns selbst stetig aktualisieren, sondern auch das, was wir in den vergangenen Jahren zum Beispiel in diesem Hörsaal gelernt haben. Zweifeln, Hinterfragen und „ja, aber“ sagen sind Teil unseres Werkzeugs geworden — wenden wir es an. Und falls das mit dem Menschen analysieren auf einen Blick doch irgendwann gelingt – meldet euch, wir hätten Interesse daran.
Schließen möchten wir diese höchst subjektiven Betrachtungen unsererseits mit einem Dank an diejenigen, die uns vor, während und nach Vorlesungen, Seminaren und Prüfungen begleitet und damit ihren Teil zu unserem Diplom beigetragen haben. Den Professorinnen und Professoren, den Mitarbeitenden, denjenigen, die unsere Prüfungsanmeldungen koordiniert haben, die Formulare und Schlüssel fest im Griff haben, die Computer- und Technikprobleme beheben und neuen vorbeugen, die morgens aufschließen und abends abschließen und die damit allesamt zu einer ganz besonderen Atmosphäre an diesem Institut beitragen.
Vielen Dank!