6.4
Binokulare Tiefenkriterien
Binokulare
Tiefenkriterien beruhen auf der Tatsache, dass wir zwei Augen haben.
Querdisparation
Da
unsere Augen bis zu 6,5 cm auseinander liegen, sehen wir mit unseren
beiden Augen leicht verschiedene Bilder. Dieses Phänomen nennt
man binokulare Disparität oder Querdisparation.
Aus den Unterschieden zwischen den beiden Netzhautbildern kann unser
Gehirn errechnen, wie weit verschiedene Gegenstände entfernt
liegen.
Sieh
Dir die beiden Bilder aufmerksam an. Sie wirken zwar auf den ersten
Blick gleich, auf den zweiten Blick kann man aber erkennen, dass
die Beziehung zwischen Vorder- und Hintergrund auf den beiden Bildern
verschieden ist. Das linke Bild entspricht dem linken Auge, das
rechte Bild dem rechten Auge.
Wir
wollen uns noch etwas genauer überlegen, worauf das Prinzip
der Querdisparation eigentlich beruht. Die kleine Abbildung zeigt
korrespondierende Punkte auf den beiden Netzhäuten. Um diese
Punkte zu finden, stellt man sich vor, eine Netzhaut werde über
die andere gelegt.
Es
gibt eine gedachte Linie auf der alle Punkte liegen, die auf korrespondierende
Punkte der Netzhaut projeziert werden. Diese gedachte Linie bezeichnet
man als Horopter. Theoretisch ist der Horopter ein Kreis, der durch
die Knotenpunkte (nodal points) beider Augen und den Fixationspunkt
D verläuft: der sogenannte Vieth-Muller-Kreis. Der tatsächliche,
empirisch beobachtbare Horopter ist gestrichelt eingezeichnet; er
liegt leicht hinter dem theoretischen Horopter.
In
dem Bild mit der Schwimmmeisterin kannst Du es noch einmal sehen:
alle Punkte auf dem Horopter fallen auf korrespondierende Punkte
der Netzhaut.
Und
jetzt kommt's: Punkte vor dem Horopter erzeugen gekreuzte
Doppelbilder, Punkte hinter dem Horopter erzeugen ungekreuzte
Doppelbilder. Da Carol und Charlie vor dem Horopter sind, fallen
ihre Bilder auf nichtkorrespondierende Netzhautbilder.
Je
weiter das Objekt vom Horopter entfernt ist, desto größer
ist der Querdisparationswinkel.
Magic
Eye
Ein
Zufallsstereogramm. Unten: das Konstruktionsprinzip des Zufallsstererogramms.
Entwicklung
und Erfahrung
Bei
höheren Lebewesen dürfte Erfahrung eine wichtigere Rolle
spielen. Die Feststellung des Erfahrungseffekts z.B. durch Prozeduren
kontrollierter Aufzucht (z.B. in totaler Dunkelheit)
Untersucht
wurde die Rolle der Erfahrung mit der Methode des visual cliff
nach Eleanor Gibson (vgl. Walk & Gibson, 1961). Das funktioniert
so: wenn der Test-Organismus vom Startpunkt aus zuverlässig
auf die flache Seite geht und die tiefe Seite vermeidet, wird unterstellt,
dass Tiefenwahrnehmung erfolgt.
Für
viele Tiere und auch für kleine Kinder ist Tiefenwahrnehmung
nachgewiesen. (Eine Ausnahme sind die Schildkröten.) Man nimmt
an, dass es eine sensible Periode für die Entwicklung
der Tiefenkriterien gibt. Wenn dem Organismus in dieser sensiblen
Periode eine bestimmte Art visueller Erfahrungen vorenthalten wird,
kommt es zu starken Defiziten.
Bei
Säuglingen sind bereits im Alter von 2-5 Monaten binokulare
Tiefenkriterien nachweisbar.
Bilder
aus Goldstein (1997)
|