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IIb
Institutionelle Anfänge der Psychologie in der Philosophischen und ihre weitere Entwicklung in der Medizinischen Fakultät

(6)
Die erste ausdrückliche Lehrbefugnis für Psychologie


 




Vom 18. bis 21. April 1904 fand in Gießen der Erste Kongreß für experimentelle Psychologie statt, auf dem mit Narziss Ach und Wilhelm Weygandt Referenten vertreten waren, die in den 90er Jahren in Kraepelins psychologischern Laboratorium experimentiert hatten (1). Aus Heidelberg war Theodor Elsenhans angereist, der - seit 1902 Privatdozent - an der Philosophischen Fakultät Vorlesungen und Seminare über Psychologie hielt (2).

Neben Kuno Fischer war 1902 dessen Schüler Wilhelm Windelband auf das zweite philosophische Ordinariat gekommen (3), und seit 1897 war Max Weber in Heidelberg - inzwischen krankheitshalber auf eigenen Antrag in den Ruhestand getreten (4). Abgesehen von Elsenhans gab es in der Fakultät keine Psychologen.

1908 reisten die Philosophen der Welt nach Heidelberg. Dort tagte vom 1. bis 5. September der Dritte Internationale Kongreß für Philosophie. Windelband führte den Vorsitz und Elsenhans war Generalsekretär. - Am zweiten Tag hielt morgens um neun der Privatdozent Dr. med. et phil. Willy Hellpach (Karlsruhe) einen Vortrag über "Wetter, Klima und Landschaft in ihrem Einfluß aufs gesunde und kranke Seelenleben" (5).

Hellpach hatte seine Lehrberechtigung in Heidelberg erhalten.

Abb. 6: Anzeige in der Karlsruher Zeitung vom 23. Dezember 1903


 


Dort begann er "in der überreichlichen Mußezeit des auf Praxis wartenden jungen Facharztes diese oder jene Vorlesung" an der Technischen Hochschule zu besuchen. Da erwachte in ihm "eine Art von platonischem Neid auf diese Männer, die vor gefüllten Hörsälen zur Jugend sprechen, lehren und Schüler heranbilden durften". Zunächst dachte er daran, die Psychologie in Heidelberg zu dozieren, doch Kraepelin lehnte die Habilitation ab und eine andere als die medizinische Fakultät schien /ihm/ .. .eine solche Absicht gar nicht in Frage zu kommen, wußte /er/... doch, ein wie abgesagter Gegner jeder empirischen Seelenkunde ein Kuno Fischer war, ohne dessen Patronat eine Niederlassung für dieses Fach in der philosophischen Fakultät ein Unding gewesen wäre" (7).

Dann fühlte er an der Technischen Hochschule vor, wo man sich zwar nicht abgeneigt zeigte, jedoch schwere Bedenken vorbrachte - unter anderem gab es keine Fachvertreter, die Hellpachs Schriften hätten beurteilen können. Schließlich fand das unterdessen eingeschaltete Unterrichtsministerium den Ausweg, die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg mit der gesamten Habilitation zu betrauen und Windelband um ein Gutachten zu bitten. - Aber erst, als sich Hellpach an Max Weber gewandt und mit diesem zwei Stunden gesprochen hatte und dieser ihm anschließend einen zwölfseitigen Brief an Windelband mitgab, kam die Sache ins Rollen (8).

Der Gutachter Windelband hatte schon vor Jahren die Psychologie als Naturwissenschaft eingestuft und als Fach von dem der Philosophie zu trennen getrachtet. In seinem Gutachten beschränkte er sich dementsprechend auf die bei Hellpach zutagetretende wissenschaftstheoretische Tendenz ... , welche /ihn/ allein ... berechtigt/e, sich/ ... ein Urteil über ... /dessen/ wissenschaftliche Qualifikation zu erlauben". - Im engeren Sinne experimentelle Arbeiten waren in diesem Falle nicht zu beurteilen.

Hellpach hatte seine "Grenzwissenschaften"und die "Grundlinien einer Psychologie der Hysterie" neben der als Manuskript vorliegenden Habilitationsschrift "Grundgedanken zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie" eingereicht (9). - Zum Schluß des Gutachtens schrieb Windelband:

"... so fasse ich ... mein Urteil über seine wissenschaftliche Qualifikation, soweit ich in der Lage bin es mir zuzutrauen, gern dahin zusammen, daß er mit eigenem Urteil und eigener Leistung mitten in der wissenschaftlichen Arbeit steht und deshalb für eine akademische Lehrtätigkeit durchaus geeignet ist" (10). Am 17. Februar 1906 beehrte sich dann die Philosophische Fakultät, dem Engeren Senat mitzuteilen, "daß /sie/ beschlossen hat, Herrn Dr.med. et phil. Willy Hellpach, nachdem der Fachvertreter der Philosophie seine bisherigen wissenschaftlichen Veröffentlichunqen und insbesondere seine eingereichte Habilitationsschrift ... beurteilt hat und nachdem der Habilitand vor der Fakultät am 16. Februar einen Probevortrag gehalten und sich einem anschließenden Colloquium unterzogen hat, für qualifiziert zur akademischen Lehrtätigkeit in dem Fache der Psychologie zu erklären" (11). Damit hatte die Philosophische Fakultät erstmals eine venia legendi speziell für das Fach der Psychologie erteilt - wenn auch für die "Schlosserakademie" (11a) Karlsruhe. Für die eigene Fakultät sollte sie solches erst 1913 tun. Die ursprünglich weit ausgelegten Lehrbefugnisse für Universitäten waren im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr eingeschränkt worden. In den Statuten der Universität Heidelberg von 1805 hieß es noch:
.. so ist gleichwohl keinem einzigen sowohl ordentlichen als außerordentlichen Professor verwehrt, über alle und jede in die Facultät, zu der er berufen ist, einschlagende Fächer Vorlesungen anzukündigen ... ,
Auch die zugelassenen Privat-Lehrer waren berechtigt, alle Collegien der Fakultäten zu halten, in denen sie die Habilitation erlangt hatten (12).
1872 waren die Lehrbefugnisse bereits wesentlich auf Teilbereiche des Lehrinhaltes der Fakultäten beschränkt. So hieß es in einer ministeriell genehmigten Verordnung des Engeren Senats: "... Privatdozenten erhalten durch ... ihre Habilitation das Recht, über die Fächer, für welche sie .. sich habilitiert haben, sowie über verwandte Fächer Vorlesungen an der Universität zu halten ..." (13).
 
 

(7)
Psychologie und Psychiatrie


 


Auf dem fünften, 1912 in Berlin tagenden Kongreß für experimentelle Psychologie kam man zu den Forderungen, jede Universität müsse ein Institut für experimentelle Psychologie erhalten und entsprechend auch einen Ordinarius für Psychologie neben mindestens zwei Ordinarien für Philosophie" (14). Um diesen Wünschen Nachdruck zu verleihen, sprach Karl Marbe über die "Bedeutung der Psychologie für die übrigen Wissenschaften und die Praxis". Dabei wandte er sich auch an die Philosophen. "Die vielen falschen Ansichten moderner Philosophen über psychologische Tatsachen, die /er/ ... teilweise im einzelnen erörterte, /zeigten/, daß ihnen Beschäftigung mit wissenschaftlicher Psychologie dringend not tut" (15). Dem hätte Windelband, seit Fischers Ausscheiden alleiniger Ordinarius für Philosophie in Heidelberg, sicherlich nicht zugestimmt. Jedenfalls war 1908, als Fischers Ordinariat besetzt werden sollte, Heinrich Rickert (und an zweiter Stelle Georg Simmel) in Vorschlag gekommen (16), doch hatte sich das Ministerium geweigert, weiterhin zwei Ordinariate zu finanzieren.

Anders sah es in der Medizin aus, der Marbe die Psychologie besonders für ihre Psychiatrie anbot, für welche sie auch nach Ansicht der bedeutendsten Psychiater die wichtigste Grundlageie bilde (17). Kraepelin, der hier gemeint war, leitete zwar inzwischen die Münchner Psychiatrische Klinik, doch wirkte seit einiger Zeit einer seiner Schüler, Hans W. Gruhle, an der unterdessen zur "Psychiatrischen Klinik" umbenannten Irrenklinik (18).
 


Abb. 7: Hans W. Gruhle (1925)


 






Gruhle hatte in Leipzig, Würzburg und München, wo er 1904 approbiert wurde, Medizin studiert, . "Schon in Leipzig betrieb /er/... neben den medizinischen psychologische Studien bei Wundt und setzte diese bei Th. Lipps in München fort". An der gerade eröffneten Klinik führte er als "persönlicher Schüler" (19) Kraepelins in dessen psychologischen Laboratorien im Winter 1904/05 ergographische Studien durch und promovierte nach längeren Auseinandersetzungen mit seinem Doktorvater im Januar 1907 - die Dissertation konnte erst nach zweimaliger Umarbeitung 1912 im fünften Band der "Arbeiten" erscheinen, als Gruhle schon an der Heidelberger Klinik arbeitete, wo er seit dem 5. Mai 1905, zunächst als Volontär, ab darauffolgenden November dann als Assistenzarzt tätig war (20).

Anfangs beschäftigte er sich unter anderem mit "Studien zur Frage: Milieu oder Anlage", die schließlich 1912 veröffentlicht wurden (21). Da aber die Anforderungen seines "Berufes die weitere Ausbildung in der Psychologie etwas gehemmt hatten, erbat und erhielt /er 1912/ ... einen halbjährlichen Urlaub durch das .. Ministerium", um seine "psychologischen Kenntnisse in jener Richtung zu vervollkommnen, die damals Oswald Külpe in Bonn vertrat" (22).

Anschließend ersuchte er die Heidelberger Medizinische Fakultät, ihn zur "Habilitation für das Fach der Psychiatrie und medizinischen Psychologie" zuzulassen und reichte als Habilitationsschrift eine Arbeit "Über Wahrnehmungsverfälschung besonders in ihrer objektiven Bedingtheit" ein (23). Franz Nissl schrieb das Gutachten, und am 18. Februar 1913 konnte der Engere Senat der Universität Gruhles Gesuch an das Ministerium weiterreichen (24). Nach dessen Genehmigung und nach einer Probevorlesung "Über die Bedeutung des Symptoms in der Psychiatrie" erhielt Gruhle am 3. März 1913 die beantragte venia legendi (25) (vgl. Abb. 10). Einen Monat später wurde der akademischen Quästur angezeigt, daß er eine eineinhalbstündige Vorlesung über "Allgemeine Psychopathologie" sowie ein zweistündiges psychologisches Seminar mit dem Thema "Arbeit und Ermüdung" zu halten gedenke (26).

Bereits einen Tag nach seiner Habilitation wandte sich sein Vorgesetzter Franz Nissl, "die Laboratorien der Klinik betreffend", an das Ministerium um unter anderem auf das psychologische Laboratorium zu sprechen zu kommen:

"Ich stelle andere, ebenso dringende Bedürfnisse zurück wegen der Notwendigkeit, Apparate für das psychologische Laboratorium anzuschaffen. Nur zeitweise wurde nach Professor Kräpelins Weggang das psychologische Laboratorium in Betrieb gesetzt. Den speziell mit psychologischen Problemen sich beschäftigenden Assistenzarzt Dr. Gruhle habe ich mit Genehmigung des Gr. Ministeriums auf ein Semester in das psychologische Laboratorium von Prof. Külpe in Bonn geschickt. Seine Habilitationsschrift hat er zum Teil im psychologischen Laboratorium der psychiatrischen Klinik in München während der Ferien gemacht, weil in unserem Laboratorium nicht die notwendigen Apparate zur Verfügung standen...
Jetzt, nachdem sich Dr. Gruhle habilitiert hat, soll endlich das psychologische Laboratorium dauernd in Betrieb gesetzt und zu Lehrzwecken benutzt werden. Da auf unserer Universität die experimentelle Psychologie nicht gelesen wird, ein Bedürfnis aber hierfür tatsächlich vorhanden ist, so wird durch die Vorlesungen von Dr. Gruhle eine Lücke ausgefüllt... Ebenso wie der klinische Lehrer eine Klinik, oder der Hirnanatom ein hirnanatomisches Laboratorium braucht, ebenso notwendig ist für den experimentellen Psychologen ein psychologisches Laboratorium...
Ein Teil der früher im psychologischen Laboratorium gebrauchten Apparate gehörte Professor Kräpelin persönlich und diese wurden von ihm nach München mitgenommen. Ein anderer Teil wurde vom Hausschreiner und dem Werkmeister der Klinik improvisiert und ist für feinere Untersuchungen nicht verwendbar..." (27).
Das Ministerium antwortete, daß der von Nissl beantragte Betrag momentan nicht zur Verfügung stehe, es wolle ihn allerdings für das Budget 1914/15 vormerken. Am 7. April bedankte sich Nissl gleich für diese Zusage, bat aber nachdrücklich, das Ministerium möge doch auch wie versprochen verfahren (28).

Im ursprünglichen psychologischen Laboratorium waren inzwischen Arztzimmer eingerichtet worden. Zwar hatte man im ehemaligen Betsaal durch Korkwände zwei neue Räume geschaffen, sie jedoch ebenfalls anderweitig verwendet. Schon 1903 war man bemüht gewesen, durch Aufstockung eines Seitenflügels des Hauptgebäudes neue Räume für Laboratorien zu schaffen, was allerdings nicht genehmigt worden war (29).
 
 

(8)
Psychologie und Philosophie: Lehrstuhl für Psychologie


 


Inzwischen hatte sich in der Philosophischen Fakultät einiges ereignet. Zunächst hatte eine Marburger Berufung für Umtriebe gesorgt. Dort war die Nachfolge Hermann Cohens an Erich Jaensch gegangen und damit wieder einmal ein philosophischer Lehrstuhl mit einem Psychologen besetzt worden (30). - In dem für Heidelberg zuständigen Ministerium des Kultus und Unterrichts ging daraufhin am 16. Februar 1913 ein Schreiben des Freiburger Philosophen Heinrich Rickert ein, in dem dieser sich erlaubte, im Auftrag von 106 Dozenten der Philosophie eine Erklärung mit der Bitte um gütige Kenntnisnahme zu überreichen". Die 107 Philosophen wandten sich "gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie":

"Das Arbeitsgebiet der experimentellen Psychologie hat sich mit dem höchst erfreulichen Aufschwung dieser Wissenschaft so erweitert, daß sie längst als eine selbständige Disziplin anerkannt wird... Trotzdem sind nicht eigene Lehrstühle für sie geschaffen, sondern man hat wiederholt Professuren der Philosophie mit Männern besetzt, deren Tätigkeit ... der experimentellen Erforschung des Seelenlebens gewidmet ist... Vor allem wird der Philosophie ... durch Entziehung von ihr allein gewidmeten Lehrstühlen eine empfindliche Schädigung zugefügt... Daher sollte die experimentelle Psychologie in Zukunft nur durch die Errichtung eigener Lehrstühle gepflegt werden..." (31). Einer der Verfasser dieser Petition war der Heidelberger Wilhelm Windelband (32). Er hatte schon 1908 in seinen am Freien Deutschen Hochstift zu Frankfurt gehaltenen Vorlesungen gemeint, die "empirische Psychologie /sei/ zweifellos eine wertvolle Errungenschaft der Zeit /und würde .. die so gewonnene Stellung ausserhalb der Philosophie dauernd bewahren"; umso mehr aber müsse anerkannt werden, daß sie als solche "nicht selber Philosophie ist und damit nicht verwechselt werden darf". Und doch sei gerade dies in den letzten Jahrzehnten geschehen. Er fuhr fort: "Es war eine zeitlang in Deutschland beinahe so, dass der Befähigungsnachweis zum Besteigen eines philosophischen Katheders schon als erbracht galt, wenn jemand methodisch auf elektrischen Knöpfen zu tippen gelernt hatte und in langen, tabellarisch wohlgeordneten Versuchsreihen zahlenmäßig beweisen konnte, dass manchen Menschen langsamer etwas einfällt, als anderen. Das war ein wenig erfreuliches Blatt in der Geschichte der deutschen Philosophie" (33). Am 18. Februar 1913, der Senat war mit Gruhles Habilitation beschäftigt, und zwei Tage nachdem in Karlsruhe das Schreiben der Philosophen eingegangen war, wandte sich der "Ausschuß der Studierenden an der Ruperto-Carola-Universität zu Heidelberg" an den Engeren Senat mit der Bitte, man "möge bei der Regierung wegen Errichtung eines psychologischen Lehrstuhles unter Aufrechterhaltung der bisherigen Lehraufträge vorstellig werden". In weiten Kreisen der Studentenschaft wurde es als "ausserordentlicher Mangel empfunden", sich nicht "mit den Methoden und Ergebnissen der experimentellen und descriptiven Psychologie bekannt zu machen". Das Schreiben wurde noch am selben Tage "mit dem Ersuchen um gefällige Äußerung" an die Philosophische Fakultät weitergeleitet, deren Mitglieder es zwei Tage später zur Kenntnis nahmen und weitere zwei Tage später auf ihrer Sitzung besprachen (34).

Fünf Monate danach, am 22. Juli 1913, bat die Philosophische Fakultät das Ministerium:

"1. seine Bereitwilligkeit zur Erteilung eines Lehrauftrags für Psychologie und Pädagogik mit einer entsprechenden Remuneration und gleichzeitiger Erteilung des Professorentitels zu erklären" - Zweitens solle das zweite philosophische Ordinariat (immer noch unbesetzt!) "durch dieses Vorgehen und der eventuellen späteren Errichtung eines psychologisch-pädagogischen Extraordinariats nicht tangiert" werden (35). Windelband und Max Weber betrieben die Errichtung eines solchen Lehrstuhls und faßten dabei den Basler Privatdozenten Paul Häberlin als Kandidaten ins Auge (36). In seinem "von der Fakultät gewünschten gutachtlichen Bericht" über diesen Privatdozenten faßte Windelband zunächst einige wesentliche Gesichtspunkte zusammen: Die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit zum Teil einseitig experimentell arbeitenden Psychologen habe zu "in jüngster Zeit auch die Oeffentlichkeit" beschäftigenden Mißständen geführt, denen man nur entgehen könne, "wenn unter Wahrung des Besitzstandes der Philosophie mit der Errichtung psychologischer Professuren Ernst gemacht wird". Und weiter: Windelband kam dann auf Häberlin zu sprechen; die Würdigung ergab, daß zur Zeit keine geeignetere Persönlichkeit gefunden werden könne.

Abb. 8: Schreiben des Unterrichtsministeriums vom 30.Juli 1913


 






Am 30. Juli antwortete das Ministerium auf die Anfrage vom 22. des Monats, für das Wintersemester 1913/14 stünden zwar keine Mittel mehr zur Verfügung, man wolle jedoch für das kommende Wintersemester das übliche Honorar von 200 RM pro Wochenstunde beantragen. Falls Häberlin gewonnen werden könne, wäre man bereit, ihm den Titel eines außerordentlichen Professors zu verleihen und für einen mindestens sechsstündigen Lehrauftrag eine Bezahlung von 1800 RM zuzusichern, sowie die Einstellung einer etatsmäßigen außerordentlichen Professur ins Budget 1916/17 zu versuchen", doch könne das nicht garantiert werden.

Die Frage des Ordinariats würde dadurch keinesfalls berührt werden (38) (vgl. Abb. 8).

Aber dann wurde Paul Häberlin 1914 Ordinarius für Philosophie, Pädagogik und Psychologie an der Universität Bern (39) und kam so für die in Aussicht genommene Stelle in Heidelberg nicht mehr in Betracht - und die Aussicht auf die Stelle selbst verdunkelte für die nächsten Jahre erst einmal der Krieg.
 
 

(9)
Psychologie, Psychiatrie und Philosophie


 


Seit Januar 1908 war Karl Jaspers an der Psychiatrischen Klinik tätig. Er hatte zunächst Jura, dann in Berlin, Göttingen und zuletzt in Heidelberg Medizin studiert, wo er nach seinem Examen die eine Hälfte des praktischen Jahres an der Psychiatrischen Klinik, die andere an der Neurologischen Abteilung der Inneren Klinik verbrachte. Nach seiner Promotion nahm ihn Nissl im Juli 1909 als Volontärarzt auf (40).

"An der Klinik wirkten ... eine Reihe erlesener Ärzte... Die Maßgebenden waren ... /Jaspers/ Lehrer Wilmanns, der Oberarzt, dann vor allem Gruhle, der durch seine Kritik, Vielseitigkeit und Spontaneität alles in Bewegung hielt, ... der menschenfreundliche Homburger ... /und/ der noch sehr junge, für alle wissenschaftlichen Möglichkeiten aufgeschlossene Mayer-Gross.
Ein geistiges Zusammenleben der Ärzte wurde, durch Nissl ermöglicht, von ihnen verwirklicht. Die Initiative Gruhles sorgte für die Regelmäßigkeit der Zusammenkünfte". Es gab Besprechungen mit allen Ärzten, wissenschaftliche Abende mit Nissl, und "es gab schließlich die privaten Abende in kleinerem Kreise ohne Nissl in Gruhles Zimmer, an denen mit der größten Freiheit und Leidenschaft erörtert wurde, was dem Einzelnen wissenschaftlich am Herzen lag" (41). Unter anderem nahmen an diesen Abenden noch Arthur Kronfeld, Wladimir Eliasberg, Otto Meyerhof und Otto Warburg teil (42).

1909 lernte Jaspers Max Weber kennen; Gruhle, der letzteren schon länger kannte und eine Zusammenkunft in der Klinik organisiert hatte, machte die beiden miteinander bekannt (43). Der Einfluß Webers auf die wissenschaftlichen Arbeiten Gruhles und Jaspers sollte später herausragende Bedeutung erlangen (44). - Weber hatte im Übrigen gerade an einer längeren "Spezialuntersuchung" zur "Psychotechnik der Industriellen Arbeit" gearbeitet, für die er "vor allem in die Arbeiten Kräpelins und seiner Schüler" eindrang (45).
 
 

Abb. 9: Karl Jaspers


 






Als 1913 Jaspers "Allgemeine Psychopathologie" (46) erschien, veranlaßte diese Nissl dazu, Jaspers zur Habilitation zu bewegen. Allerdings hatte er selbst zu viele Privatdozenten und schlug vor, es unter anderem bei Kraepelin in München zu versuchen. Doch Jaspers wollte in Heidelberg bleiben und sich lieber in der Philosophischen Fakultät für Psychologie habilitieren (47).

Max Weber vermittelte und Windelband nahm Jaspers tatsächlich als Habilitanden an, "erklärte sich aber angesichts der als Habilitationsschrift eingereichten `Allgemeinen Psychopathologie´ für unsachverständig. Franz Nissl, Max Weber und Oswald Külpe schrieben die Gutachten" (48). Am 7. November stand für Windelband einer Habilitation für Psychologie prinzipiell nichts im Wege, doch müßten dabei dieselben Voraussetzungen erfüllt sein, wie er sie für jenen beantragten Lehrstuhl als erforderlich ansah:

"Es wird erwartet werden, daß der Psychologe in die eigentlich philosophische Lehrtätigkeit nicht eingreift, daß er aber für seine Person eine genügende philosophische Vorbildung besitzt... Die Erfüllung dieser Bedingung vereinigt sich bei Herrn Dr. Jaspers mit einer hervorragenden Befähigung für den wissenschaftlichen Betrieb der Psychologie in so glücklicher Weise, daß seine Habilitation in unserer Fakultät lebhaft zu begrüßen ist" (49). Am 29. November 1913 hielt Jaspers seine "Probevorlesung (28 Minuten): Verstehen und Erklären in der Psychologie". Nach anschließendem Kolloquium beantragte Windelband, diesen "für das Fach der Psychologie für fähig zu erklären" und nach der öffentlichen Antrittsvorlesung über "Die Grenzen der Psychologie" erhielt Jaspers die erste venia legendi für Psychologie in der Philosophischen Fakultät Heidelberg (50) (vgl. Abb. 10).

Im Sommer 1914 bot er "Psychologie der Charaktere und Begabungen", im darauffolgenden Semester "Allgemeine Psychologie" an.

Er blieb bis 1915 als Volontärarzt an der Klinik. Am 17. November 1916 wurde ihm der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen und gleichzeitig, einem Antrag der Fakultät entsprechend, ab laufendem Wintersemester ein "Lehrauftrag zur Abhaltung einer zweistündigen Vorlesung in jedem Semester aus dem Gebiete der Psychologie" übertragen (51).

Am 28. Juni 1914 waren in Sarajewo Schüsse gefallen. Es kam zu Kriegserklärungen am 28. Juli, am 1., 3. und 23. August, zwischen dem 2. und 5. November 1914, am 23. Mai 1915, am 26. und 27. August 1916 und am 6. April 1917.
 
 


 

Abb. 10: Einladungen zu Probe- und Antrittsvorlesungen
 
 
 
 
 

(10)
Die Lage des Faches am Vorabend des Ersten Weltkrieges


 


Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die Psychologie an der Heidelberger Universität etabliert.

Nach einer ersten Blüte der experimentellen Psychologie an der Heidelberger Irrenklinik waren mit Emil Kraepelin auch ein Teil des Laboratoriums und dessen Schüler nach München gezogen. Die Räume hatten nach Vermehrung der Arztstellen eine andere Verwendung gefunden und ein größerer Ausbau der Klinik, um Räume für Forschung zu gewinnen, war nicht genehmigt worden.

Wohl aber bestand für den Ausbau des psychologischen Laboratoriums eine gewisse Aussicht, und mit Gruhle hatte man wieder einen psychologisch ausgebildeten und interessierten Irrenarzt, der dem Fach in Forschung und Lehre dienen konnte.

Selbst in der Philosophischen Fakultät war die Psychologie nun offiziell vertreten, in einer Richtung allerdings, die ebenfalls von der Irrenklinik ihren Ausgang genommen hatte. Doch es war auch eigens ein Lehrstuhl beantragt worden, dessen Besetzung mit Häberlin zwar scheiterte, der jedoch immerhin für das Budget vorgesehen war. Dabei dürfen die Rolle Max Webers, seine Beziehungen zu Gruhle und Jaspers einerseits und zu Windelband andererseits, nicht unterschätzt werden, auch wenn Max Weber keinen offiziellen Sitz in der Fakultät hatte. - Schließlich saß mit Windelband kein als Förderer der Psychologie bekannt gewordener Vertreter der der Südwestdeutschen Schule des Neukantinismus auf dem entscheidenden Ordinariat.-

Die hier sichtbar gewordenen Tendenzen innerhalb von Psychiatrie und Philosophie und zwischen diesen Disziplinen sollten sich durch den Krieg hindurch bis in die Zeit der Weimarer Republik und darüber hinaus fortsetzen.



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12.10.98