IIb
Institutionelle Anfänge der Psychologie
in der Philosophischen und ihre weitere Entwicklung in der Medizinischen
Fakultät
Vom 18. bis 21. April 1904 fand in Gießen der Erste Kongreß für experimentelle Psychologie statt, auf dem mit Narziss Ach und Wilhelm Weygandt Referenten vertreten waren, die in den 90er Jahren in Kraepelins psychologischern Laboratorium experimentiert hatten (1). Aus Heidelberg war Theodor Elsenhans angereist, der - seit 1902 Privatdozent - an der Philosophischen Fakultät Vorlesungen und Seminare über Psychologie hielt (2).
Neben Kuno Fischer war 1902 dessen Schüler Wilhelm Windelband auf das zweite philosophische Ordinariat gekommen (3), und seit 1897 war Max Weber in Heidelberg - inzwischen krankheitshalber auf eigenen Antrag in den Ruhestand getreten (4). Abgesehen von Elsenhans gab es in der Fakultät keine Psychologen.
1908 reisten die Philosophen der Welt nach Heidelberg. Dort tagte vom 1. bis 5. September der Dritte Internationale Kongreß für Philosophie. Windelband führte den Vorsitz und Elsenhans war Generalsekretär. - Am zweiten Tag hielt morgens um neun der Privatdozent Dr. med. et phil. Willy Hellpach (Karlsruhe) einen Vortrag über "Wetter, Klima und Landschaft in ihrem Einfluß aufs gesunde und kranke Seelenleben" (5).
Hellpach hatte seine Lehrberechtigung in Heidelberg erhalten.
Abb. 6: Anzeige in der Karlsruher Zeitung vom 23. Dezember 1903
Dort begann er "in der überreichlichen Mußezeit des auf Praxis wartenden jungen Facharztes diese oder jene Vorlesung" an der Technischen Hochschule zu besuchen. Da erwachte in ihm "eine Art von platonischem Neid auf diese Männer, die vor gefüllten Hörsälen zur Jugend sprechen, lehren und Schüler heranbilden durften". Zunächst dachte er daran, die Psychologie in Heidelberg zu dozieren, doch Kraepelin lehnte die Habilitation ab und eine andere als die medizinische Fakultät schien /ihm/ .. .eine solche Absicht gar nicht in Frage zu kommen, wußte /er/... doch, ein wie abgesagter Gegner jeder empirischen Seelenkunde ein Kuno Fischer war, ohne dessen Patronat eine Niederlassung für dieses Fach in der philosophischen Fakultät ein Unding gewesen wäre" (7).
Dann fühlte er an der Technischen Hochschule vor, wo man sich zwar nicht abgeneigt zeigte, jedoch schwere Bedenken vorbrachte - unter anderem gab es keine Fachvertreter, die Hellpachs Schriften hätten beurteilen können. Schließlich fand das unterdessen eingeschaltete Unterrichtsministerium den Ausweg, die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg mit der gesamten Habilitation zu betrauen und Windelband um ein Gutachten zu bitten. - Aber erst, als sich Hellpach an Max Weber gewandt und mit diesem zwei Stunden gesprochen hatte und dieser ihm anschließend einen zwölfseitigen Brief an Windelband mitgab, kam die Sache ins Rollen (8).
Der Gutachter Windelband hatte schon vor Jahren die Psychologie als Naturwissenschaft eingestuft und als Fach von dem der Philosophie zu trennen getrachtet. In seinem Gutachten beschränkte er sich dementsprechend auf die bei Hellpach zutagetretende wissenschaftstheoretische Tendenz ... , welche /ihn/ allein ... berechtigt/e, sich/ ... ein Urteil über ... /dessen/ wissenschaftliche Qualifikation zu erlauben". - Im engeren Sinne experimentelle Arbeiten waren in diesem Falle nicht zu beurteilen.
Hellpach hatte seine "Grenzwissenschaften"und die "Grundlinien einer Psychologie der Hysterie" neben der als Manuskript vorliegenden Habilitationsschrift "Grundgedanken zur Wissenschaftslehre der Psychopathologie" eingereicht (9). - Zum Schluß des Gutachtens schrieb Windelband:
Auf dem fünften, 1912 in Berlin tagenden Kongreß für experimentelle Psychologie kam man zu den Forderungen, jede Universität müsse ein Institut für experimentelle Psychologie erhalten und entsprechend auch einen Ordinarius für Psychologie neben mindestens zwei Ordinarien für Philosophie" (14). Um diesen Wünschen Nachdruck zu verleihen, sprach Karl Marbe über die "Bedeutung der Psychologie für die übrigen Wissenschaften und die Praxis". Dabei wandte er sich auch an die Philosophen. "Die vielen falschen Ansichten moderner Philosophen über psychologische Tatsachen, die /er/ ... teilweise im einzelnen erörterte, /zeigten/, daß ihnen Beschäftigung mit wissenschaftlicher Psychologie dringend not tut" (15). Dem hätte Windelband, seit Fischers Ausscheiden alleiniger Ordinarius für Philosophie in Heidelberg, sicherlich nicht zugestimmt. Jedenfalls war 1908, als Fischers Ordinariat besetzt werden sollte, Heinrich Rickert (und an zweiter Stelle Georg Simmel) in Vorschlag gekommen (16), doch hatte sich das Ministerium geweigert, weiterhin zwei Ordinariate zu finanzieren.
Anders sah es
in der Medizin aus, der Marbe die Psychologie besonders für ihre Psychiatrie
anbot, für welche sie auch nach Ansicht der bedeutendsten Psychiater
die wichtigste Grundlageie bilde (17).
Kraepelin, der hier gemeint war, leitete zwar inzwischen die Münchner
Psychiatrische Klinik, doch wirkte seit einiger Zeit einer seiner Schüler,
Hans W. Gruhle, an der unterdessen zur "Psychiatrischen Klinik" umbenannten
Irrenklinik (18).
Abb. 7: Hans W. Gruhle (1925)
Gruhle hatte in Leipzig, Würzburg und München, wo er 1904 approbiert wurde, Medizin studiert, . "Schon in Leipzig betrieb /er/... neben den medizinischen psychologische Studien bei Wundt und setzte diese bei Th. Lipps in München fort". An der gerade eröffneten Klinik führte er als "persönlicher Schüler" (19) Kraepelins in dessen psychologischen Laboratorien im Winter 1904/05 ergographische Studien durch und promovierte nach längeren Auseinandersetzungen mit seinem Doktorvater im Januar 1907 - die Dissertation konnte erst nach zweimaliger Umarbeitung 1912 im fünften Band der "Arbeiten" erscheinen, als Gruhle schon an der Heidelberger Klinik arbeitete, wo er seit dem 5. Mai 1905, zunächst als Volontär, ab darauffolgenden November dann als Assistenzarzt tätig war (20).
Anfangs beschäftigte er sich unter anderem mit "Studien zur Frage: Milieu oder Anlage", die schließlich 1912 veröffentlicht wurden (21). Da aber die Anforderungen seines "Berufes die weitere Ausbildung in der Psychologie etwas gehemmt hatten, erbat und erhielt /er 1912/ ... einen halbjährlichen Urlaub durch das .. Ministerium", um seine "psychologischen Kenntnisse in jener Richtung zu vervollkommnen, die damals Oswald Külpe in Bonn vertrat" (22).
Anschließend ersuchte er die Heidelberger Medizinische Fakultät, ihn zur "Habilitation für das Fach der Psychiatrie und medizinischen Psychologie" zuzulassen und reichte als Habilitationsschrift eine Arbeit "Über Wahrnehmungsverfälschung besonders in ihrer objektiven Bedingtheit" ein (23). Franz Nissl schrieb das Gutachten, und am 18. Februar 1913 konnte der Engere Senat der Universität Gruhles Gesuch an das Ministerium weiterreichen (24). Nach dessen Genehmigung und nach einer Probevorlesung "Über die Bedeutung des Symptoms in der Psychiatrie" erhielt Gruhle am 3. März 1913 die beantragte venia legendi (25) (vgl. Abb. 10). Einen Monat später wurde der akademischen Quästur angezeigt, daß er eine eineinhalbstündige Vorlesung über "Allgemeine Psychopathologie" sowie ein zweistündiges psychologisches Seminar mit dem Thema "Arbeit und Ermüdung" zu halten gedenke (26).
Bereits einen Tag nach seiner Habilitation wandte sich sein Vorgesetzter Franz Nissl, "die Laboratorien der Klinik betreffend", an das Ministerium um unter anderem auf das psychologische Laboratorium zu sprechen zu kommen:
Im ursprünglichen psychologischen Laboratorium waren
inzwischen Arztzimmer eingerichtet worden. Zwar hatte man im ehemaligen
Betsaal durch Korkwände zwei neue Räume geschaffen, sie jedoch
ebenfalls anderweitig verwendet. Schon 1903 war man bemüht gewesen,
durch Aufstockung eines Seitenflügels des Hauptgebäudes neue
Räume für Laboratorien zu schaffen, was allerdings nicht genehmigt
worden war (29).
Inzwischen hatte sich in der Philosophischen Fakultät einiges ereignet. Zunächst hatte eine Marburger Berufung für Umtriebe gesorgt. Dort war die Nachfolge Hermann Cohens an Erich Jaensch gegangen und damit wieder einmal ein philosophischer Lehrstuhl mit einem Psychologen besetzt worden (30). - In dem für Heidelberg zuständigen Ministerium des Kultus und Unterrichts ging daraufhin am 16. Februar 1913 ein Schreiben des Freiburger Philosophen Heinrich Rickert ein, in dem dieser sich erlaubte, im Auftrag von 106 Dozenten der Philosophie eine Erklärung mit der Bitte um gütige Kenntnisnahme zu überreichen". Die 107 Philosophen wandten sich "gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie":
Fünf Monate danach, am 22. Juli 1913, bat die Philosophische Fakultät das Ministerium:
Aus diesen Erwägungen wünscht die Fakultät die Schaffung einer zunächst ausserordentlichen Professur für theoretische und angewandte Psychologie, insbesondere Pädagogik, und sie begrüsst es dankbar, dass das Grossherzogliche Ministerium sich dem Eingehen auf diesen Wunsch geneigt zeigt..." Es würde von einem zu berufenden Mann "erwartet werden, dass er in die eigentlich philosophische Lehrtätigkeit nicht eingriffe, dagegen die Psychologie im philosophischen Sinne beherrsche und keine der einseitigen Richtungen vertrete. Die Errichtung eines Instituts für physiologische Psychologie wird dabei nicht in Aussicht genommen, da diesem Bedürfnis jetzt durch einen Privatdozenten der medizinischen Fakultät vollauf genügt wird" (37).
Abb. 8: Schreiben des Unterrichtsministeriums vom 30.Juli 1913
Am 30. Juli antwortete das Ministerium auf die Anfrage vom 22. des Monats, für das Wintersemester 1913/14 stünden zwar keine Mittel mehr zur Verfügung, man wolle jedoch für das kommende Wintersemester das übliche Honorar von 200 RM pro Wochenstunde beantragen. Falls Häberlin gewonnen werden könne, wäre man bereit, ihm den Titel eines außerordentlichen Professors zu verleihen und für einen mindestens sechsstündigen Lehrauftrag eine Bezahlung von 1800 RM zuzusichern, sowie die Einstellung einer etatsmäßigen außerordentlichen Professur ins Budget 1916/17 zu versuchen", doch könne das nicht garantiert werden.
Die Frage des Ordinariats würde dadurch keinesfalls berührt werden (38) (vgl. Abb. 8).
Aber dann wurde Paul Häberlin 1914 Ordinarius für
Philosophie, Pädagogik und Psychologie an der Universität Bern
(39)
und kam so für die in Aussicht genommene Stelle in Heidelberg nicht
mehr in Betracht - und die Aussicht auf die Stelle selbst verdunkelte für
die nächsten Jahre erst einmal der Krieg.
Seit Januar 1908 war Karl Jaspers an der Psychiatrischen Klinik tätig. Er hatte zunächst Jura, dann in Berlin, Göttingen und zuletzt in Heidelberg Medizin studiert, wo er nach seinem Examen die eine Hälfte des praktischen Jahres an der Psychiatrischen Klinik, die andere an der Neurologischen Abteilung der Inneren Klinik verbrachte. Nach seiner Promotion nahm ihn Nissl im Juli 1909 als Volontärarzt auf (40).
"An der Klinik
wirkten ... eine Reihe erlesener Ärzte... Die Maßgebenden waren
... /Jaspers/ Lehrer Wilmanns, der Oberarzt, dann vor allem Gruhle, der
durch seine Kritik, Vielseitigkeit und Spontaneität alles in Bewegung
hielt, ... der menschenfreundliche Homburger ... /und/ der noch sehr junge,
für alle wissenschaftlichen Möglichkeiten aufgeschlossene Mayer-Gross.
Ein geistiges
Zusammenleben der Ärzte wurde, durch Nissl ermöglicht, von ihnen
verwirklicht. Die Initiative Gruhles sorgte für die Regelmäßigkeit
der Zusammenkünfte". Es gab Besprechungen mit allen Ärzten, wissenschaftliche
Abende mit Nissl, und "es gab schließlich die privaten Abende in
kleinerem Kreise ohne Nissl in Gruhles Zimmer, an denen mit der größten
Freiheit und Leidenschaft erörtert wurde, was dem Einzelnen wissenschaftlich
am Herzen lag" (41).
Unter anderem nahmen an diesen Abenden noch Arthur
Kronfeld, Wladimir Eliasberg, Otto Meyerhof und Otto Warburg teil (42).
1909 lernte Jaspers
Max Weber kennen; Gruhle, der letzteren schon länger kannte und eine
Zusammenkunft in der Klinik organisiert hatte, machte die beiden miteinander
bekannt (43).
Der Einfluß Webers auf die wissenschaftlichen Arbeiten Gruhles und
Jaspers sollte später herausragende Bedeutung erlangen (44).
- Weber hatte im Übrigen gerade an einer längeren "Spezialuntersuchung"
zur "Psychotechnik der Industriellen Arbeit" gearbeitet, für die er
"vor allem in die Arbeiten Kräpelins und seiner Schüler" eindrang
(45).
Abb. 9: Karl Jaspers
Als 1913 Jaspers "Allgemeine Psychopathologie" (46) erschien, veranlaßte diese Nissl dazu, Jaspers zur Habilitation zu bewegen. Allerdings hatte er selbst zu viele Privatdozenten und schlug vor, es unter anderem bei Kraepelin in München zu versuchen. Doch Jaspers wollte in Heidelberg bleiben und sich lieber in der Philosophischen Fakultät für Psychologie habilitieren (47).
Max Weber vermittelte und Windelband nahm Jaspers tatsächlich als Habilitanden an, "erklärte sich aber angesichts der als Habilitationsschrift eingereichten `Allgemeinen Psychopathologie´ für unsachverständig. Franz Nissl, Max Weber und Oswald Külpe schrieben die Gutachten" (48). Am 7. November stand für Windelband einer Habilitation für Psychologie prinzipiell nichts im Wege, doch müßten dabei dieselben Voraussetzungen erfüllt sein, wie er sie für jenen beantragten Lehrstuhl als erforderlich ansah:
Im Sommer 1914 bot er "Psychologie der Charaktere und Begabungen", im darauffolgenden Semester "Allgemeine Psychologie" an.
Er blieb bis 1915 als Volontärarzt an der Klinik. Am 17. November 1916 wurde ihm der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen und gleichzeitig, einem Antrag der Fakultät entsprechend, ab laufendem Wintersemester ein "Lehrauftrag zur Abhaltung einer zweistündigen Vorlesung in jedem Semester aus dem Gebiete der Psychologie" übertragen (51).
Am 28. Juni 1914 waren in Sarajewo Schüsse gefallen.
Es kam zu Kriegserklärungen am 28. Juli, am 1., 3. und 23. August,
zwischen dem 2. und 5. November 1914, am 23. Mai 1915, am 26. und 27. August
1916 und am 6. April 1917.
Abb. 10: Einladungen
zu Probe- und Antrittsvorlesungen
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war die Psychologie an der Heidelberger Universität etabliert.
Nach einer ersten Blüte der experimentellen Psychologie an der Heidelberger Irrenklinik waren mit Emil Kraepelin auch ein Teil des Laboratoriums und dessen Schüler nach München gezogen. Die Räume hatten nach Vermehrung der Arztstellen eine andere Verwendung gefunden und ein größerer Ausbau der Klinik, um Räume für Forschung zu gewinnen, war nicht genehmigt worden.
Wohl aber bestand für den Ausbau des psychologischen Laboratoriums eine gewisse Aussicht, und mit Gruhle hatte man wieder einen psychologisch ausgebildeten und interessierten Irrenarzt, der dem Fach in Forschung und Lehre dienen konnte.
Selbst in der Philosophischen Fakultät war die Psychologie nun offiziell vertreten, in einer Richtung allerdings, die ebenfalls von der Irrenklinik ihren Ausgang genommen hatte. Doch es war auch eigens ein Lehrstuhl beantragt worden, dessen Besetzung mit Häberlin zwar scheiterte, der jedoch immerhin für das Budget vorgesehen war. Dabei dürfen die Rolle Max Webers, seine Beziehungen zu Gruhle und Jaspers einerseits und zu Windelband andererseits, nicht unterschätzt werden, auch wenn Max Weber keinen offiziellen Sitz in der Fakultät hatte. - Schließlich saß mit Windelband kein als Förderer der Psychologie bekannt gewordener Vertreter der der Südwestdeutschen Schule des Neukantinismus auf dem entscheidenden Ordinariat.-
Die hier sichtbar
gewordenen Tendenzen innerhalb von Psychiatrie und Philosophie und zwischen
diesen Disziplinen sollten sich durch den Krieg hindurch bis in die Zeit
der Weimarer Republik und darüber hinaus fortsetzen.