(7) Relation zwischen sprachlicher Ästhetik und argumentativer (Un-)Integrität

Verschiedentlich ist die Befürchtung geäußert worden, das Konstrukt der Argumentationsintegrität könne eine Überziehung der moralischen Dimension auf Kosten der sprachlichen Ästhetik der Argumentation nach sich ziehen. Im Unterschied dazu nehmen wir an, daß argumentative Integrität und sprachliche Ästhetik gerade nicht gegenläufig sind, sondern daß argumentative Äußerungen nur dann eine optimale Wirkung entfalten, wenn sie zugleich integer und sprachlich-ästhetisch ansprechend sind. Ausgehend von diesen Überlegungen wurde eine Untersuchung durchgeführt, in der die persuasive Wirksamkeit unterschiedlicher Kombinationen von (Un-)Integrität und sprachlicher Ästhetik (Mischo, Groeben & Christmann 1996) überprüft wurde. Die Untersuchung leistet zugleich einen Beitrag zur diskriminanten Validierung der Konstrukte ‘Integrität’ und ‘Ästhetik’. Im einzelnen wurden drei in der Philosophiegeschichte verankerte prototypische Möglichkeiten unterschieden und empirisch untersucht: (a) Überordnung der Ästhetik, (b) Integrität als notwendige Voraussetzung der Ästhetik sowie (c) Kompensation fehlender Integrität durch Ästhetik und umgekehrt. Die Operationalisierung des Integritätsfaktors erfolgte unter Rückgriff auf die 11 empirisch gesicherten Standards der Argumentationsintegrität. Die Ästhetizität sprachlicher Äußerungen wurde als mehrstelliges Konstrukt expliziert und auf der Grundlage eines semiotischen Abweichungsmodells (Plett 1975) operationalisiert. Mit Hilfe dieses Modells lassen sich rhetorische Stilfiguren als syntaktische, semantische oder pragmatische Abweichungen klassifizieren. Die ästhetische Wirkung der Äußerungen kann dann als Funktion dieser semiotischen Abweichungen empirisch getestet werden. Zur Realisierung beider Faktoren wurden 50 verschriftete Argumentationsepisoden konstruiert, die sowohl ästhetisch ansprechend bzw. neutral als auch integer bzw. uninteger sind. Experten/innen bestätigten in einem Rating das Gelingen der beiden Faktoren ‘Ästhetizität’ und ‘(Un-)Integrität’. Die spätere Überprüfung der Hypothesen berücksichtigte zusätzlich zu dieser ‘objektiven’ (Experten/innen-)Einschätzung auch die subjektiven Einschätzungen der Untersuchungsteilnehmer bezüglich der (Un-)Integrität und der semiotischen Abweichung der jeweiligen Äußerungen. Die Ergebnisse zur Relation von sprachlicher Ästhetik und (Un-)Integrität zeigen deutlich, daß Integrität eine notwendige Bedingung dafür darstellt, daß semiotische Abweichungen eine überzeugungssteigernde Wirkung entfalten können. So wurden beispielsweise die semantischen Abweichungen nur in den integren, nicht jedoch in den unintegren Varianten als besonders überzeugend eingeschätzt. Insgesamt sprechen die Ergebnisse für den prototypischen Fall (b), wonach die Integrität der Argumente als notwendige Voraussetzung für die persuasive Wirksamkeit ästhetischer Elemente anzusetzen ist. Diese Ergebnisse konnten in einer parallel aufgebauten Untersuchung (Mischo, Christmann & Groeben 1996) auch für einen mündlichen Darbietungsmodus gesichert werden, wobei der Ebene der subjektiv wahrgenommenen Auffälligkeiten eine höhere Bedeutung zukam als im schriftlichen Darbietungsmodus.

Publikationen

Mischo, C., Groeben, N. & Christmann, U. (1997). Was ist in Argumentationen überzeugender: rhetorische Ästhetik oder kommunikative Fairneß? Zeitschrift für Experimentelle Psychologie, XLIV(4), 656-685.

Mischo, C. & Christmann, U. (1998). The persuasive effects of (un-)fair and aesthetic contributions in argumentations: an empirical study. In S. Cmejrková, J. Hoffmannová, O. Müllerová & J. Svétlá (eds.), Dialoganalyse VI. Refererate der 6. Arbeitstagung Prag 1996, Teil 1 (189-196). Tübingen: Niemeyer.

Christmann, U., Mischo, C., & Groeben, N. (2000). Components of the evaluation of integrity violations in argumentative discussions: Relevant factors and their relationsships. Journal of Language and Social Psychology. 19 (3), 315-341.

Christmann, U., Groeben, N. & Schute, E. (2000). Zur Ästhetik sprachlicher Verteidigung: Reaktionen auf argumentative Unintegrität (SPIEL) (Siegener Periodikum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft), 277-301.

 

Berichte des SFB 245

Mischo, C., Groeben, N. & Christmann, U. (1996). Argumentationsintegrität (XIX): Persuasive Wirkeffekte sprachlicher Ästhetik und argumentativer (Un-)Integrität (I): Konzeptualisierung, Validierung, Hypothesenprüfung. Bericht Nr. 98. (113 S.).

Mischo, C., Christmann, U. & Groeben, N. (1996). Argumentationsintegrität (XX): Persuasive Wirkeffekte sprachlicher Ästhetik und argumentativer (Un-)Integrität (II): Methodenvergleich (schriftlicher vs. mündliche Darbietung). Bericht Nr. 99. (113 S.).


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