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I
Einleitung

Ia
Das Interesse an der Institutionalisierung


Beschäftigung mit einer Wissenschaft wie der Psychologie wird je nach dem wissenschaftlichen Interesse unterschiedliche Akzente setzen. Schon bei der Reflexion auf die gegenwärtige Lage mag es sinnvoll sein, entweder auf den Stand der Forschung in Theorie und Empirie abzuheben oder die Lage des Faches als akademisch institutionalisierte Disziplin zu analysieren, und man wird schließlich, wenn das Studium dieses Faches zu einer Berufsqualifikation führt, auch die berufliche Situation in diesem Fach zum Gegenstand einer kritischen Prüfung machen. Das geschieht für die Psychologie als Wissenschaft, als Fach und als Beruf seit 1970 in den Berichten zur Lage der Psychologie, die die jeweiligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zu erstatten haben.

Auch bei der Reflexion auf die Vergangenheit, die zur gegenwärtigen Lage der Psychologie geführt hat, sind entsprechende Perspektiven unvermeidlich, allerdings sehr viel ungleicher verteilt. Die traditionelle Wissenschaftsgeschichte ist (nicht nur) in der Psychologie primär die von Wissenschaftlern und ihrem Werk, ihren Theorien und Erkenntnissen gewesen, wahlweise die von Theorien, "Schulen" und ihren Vertretern. Diese Art der Historiographie in vacuo ist jedoch in den letzten Jahren auf berechtigte Kritik gestoßen, nicht zuletzt weil sie die Rahmenbedingungen, unter denen die "großen Männer" forschen und lehren konnten, in der Regel ausblendete, und, wenn überhaupt, der Wissenschaftssoziologie überließ (1).

Dabei war doch eigentlich jedem Psychologen klar, welche Rolle allgemein-politische Ereignisse, wie der Erste Weltkrieg, Hitlers Machtübernahme, die Wiederaufrüstung, der Zweite Weltkrieg und dessen Folgen in Ost und West auch in der Geschichte der Psychologie gespielt haben.

Welch enger Zusammenhang zwischen politischer Geschichte und Berufsmöglichkeiten bestanden hat, ist gerade für die Psychologie überzeugend von Geuter (1984) dargestellt worden. Die Professionalisierung der Psychologie hat in Deutschland die entscheidende Schwelle mit der 1941 erlassenen Diplomprüfungsordnung überschritten, was, wie wir für Heidelberg zeigen wollen, institutionelle Konsequenzen nach sich zog.

Aber gerade diese Perspektive auf eine Wissenschaft als institutionalisiertes Fach hat in der Historiographie der Psychologie noch kein systematisches Interesse gefunden. Zwar kann man aufgelistet nachlesen, wann (seit Leipzig 1879) wo welches Psychologische Institut gegründet worden ist. Auch gibt es für einzelne Institute, meist jubiläumsbedingt, Berichte darüber, wie es zu ihrer Gründung kam bzw. welches Schicksal sie hatten. Die Analyse der Bedeutung der Institutionalisierung für die Psychologie, speziell die der Institutsgründung, und die Einbettung dieses oft langwierigen und von Mißerfolgen gezeichneten Institutionalisierungsprozesses in den relevanten Kontext ist jedoch Desiderat geblieben; vielleicht auch deswegen, weil der relevante Kontext so komplex und so schwer zu rekonstruieren ist. Fakultätsgeschichte, Universitätsgeschichte im Kontext der jeweiligen Fach-, Kultur- und Finanzpolitik, die ihrerseits übergeordneten politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen und "Zwängen" gehorchen, bilden diesen äußeren Kontext, innerhalb dessen sich die eher wissenschaftsimmanenten Interessen an Forschung und Lehre, vertreten durch mehr oder minder überzeugende und einflußreiche Fachvertreter, artikulieren müssen, teils unterstützt, teils irritiert durch die wechselnden Stimmen der Studentenschaft.

Obwohl dieser Komplex von Wechselwirkungen den Alltag an einem wissenschaftlichen Institut bestimmt und auch immer wieder mal dem, der etwas für die Lehre oder die Forschung an seinem Institut erreichen will, geradezu schmerzlich bewußt wird, kennen wir keine psychologiehistorische oder -soziologische Analyse dieses Komplexes. Auch wir werden sie nicht leisten können, obwohl wir der Überzeugung sind, daß die Geschichte einer Wissenschaft immer auch die ihrer Einrichtung und Institutionalisierung ist. Die Etablierung neuer Wissenschaften, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, fand mit der Gründung eines Instituts die entsprechende Anerkennung. Das gilt für die Naturwissenschaften und für die nach ihrem Modell gebildeten Disziplinen mehr als für die Geisteswissenschaften - ein Seminar ist traditionell eher eine Veranstaltung als eine Anstalt.

Wir stützen uns zunächst auf ein Vorverständnis von "Institut", das - zumindest für ein deutsches Universitätsinstitut - sicher unterstellt werden kann: eine Anstalt oder Einrichtung, die, der Forschung und Lehre dienend, in der Regel auf Dauer eingerichtet und deshalb räumlich und personell, d.h. juristisch, organisatorisch und finanziell zu sichern ist. Dabei wären "Institut" und "Seminar", aber auch (in westeuropäischen Ländern) "Laboratorium" und in den USA "department" Varianten solcher Einrichtungen. Allerdings wird man weitergehend nicht nur die Schaffung eines Lehrstuhls für ein neues Gebiet, ein regelmäßiges, womöglich planmäßiges Lehrangebot für ein Fach, die Verabschiedung einer Prüfungsordnung, sondern auch die Begründung einer Fachzeitschrift, die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften, die regelmäßige Abhaltung von Kongressen als Merkmale eines Institutionalisierungsprozesses ansehen müssen, die die Entwicklung eines Wissensgebietes zu einer wissenschaftlichen Disziplin markieren.

Aus dem Interesse an der Institutionalisierung der Psychologie haben wir uns der Geschichte und Vorgeschichte des Psychologischen Instituts der Universität Heidelberg zugewandt.

Ob das, was wir zusammengetragen und in eine erste Ordnung gebracht haben, bloße Kasuistik ist oder historiographisch allgemeine Züge aufweist, mag der Leser entscheiden. Auf keinen Fall kann die folgende Studie der Institutionalisierung der Psychologie in Heidelberg den Anspruch auf Allgemeinheit erheben. Denn die Rolle Heidelbergs in der Geschichte der Psychologie war über lange Zeit eher bescheiden und, wenn bedeutsam, dann mehr in den sogenannten Grenzgebieten der jeweiligen Psychologie.

Grenzgänger waren die meisten Psychologen, die wir vor der Institutsgründung in Heidelberg antreffen, wenn auch von sehr unterschiedlicher Orientierung und Wirkung. Aus der Physiologie in die Psychologie hinein bewegte sich der Heidelberger Wundt. Aus dieser Grenzüberschreitung konstituierte sich, vollends nach Wundts Weggang aus Heidelberg, die neue Wissenschaft Psychologie. Grenzgänger ganz anderer Art waren die Heidelberger, die nachfolgten: Emil Kraepelin, der die (Wundtsche) Psychologie in den Dienst der Psychiatrie gestellt hat. Aber auch Aschaffenburgs frühe Kriminalpsychologie, Willy Hellpachs in sämtlichen Grenzgebieten rund um den Mainstream angesiedelte Was-auch-immer-Psychologie, Hans W. Gruhles verstehende Psychologie (obwohl er, jedenfalls in der Lehre, sogar die Allgemeine Psychologie vertrat) oder Karl Jaspers' Psychopathologie, um nur einige, in Heidelberg im Sinne der Institutionalisierung wirkende Psychologen zu nennen, zeigen, wie wenig bedeutsam deren jeweilige Forschungen für die akademische Hauptströmung der zeitgenössischen Psychologie waren. - Andererseits bekam Heidelberg relativ spät, und erst, als das Fach an anderen Universitäten und innerhalb der wissenschaftlich-akademischen wie der Expertengesellschaft längst Fuß gefaßt hatte, sein offizielles Psychologisches Institut.

Mithin kann unsere Geschichte nicht zur Illustration der allgemeinen Psychologiegeschichte, einer speziellen Geschichte der Institutionalisierung dieser Disziplin oder auch nur einer Teildisziplin dienen, kann sie generelle Hypothesen der Fachentwicklung oder gar der Wissenschaftsentwicklung wenn überhaupt, so nur bedingt bestätigen.

Was eine solche, dem "Ortsgeist" verhaftete Geschichte trotzdem interessant macht, sind vor allem zwei Punkte.

- Gerade das (gemessen an der allgemeinen Disziplingeschichte) Atypische mag interessante und eventuell korrigierende Gesichtspunkte enthalten. Daß die Heidelberger Psychologie auf weiten Strecken innerhalb der Psychiatrie und damit in der Medizinischen Fakultät, also fast durchweg von "Medizinern" betrieben wurde, daß im "Dritten Reich" sogar ein Professor der Inneren Medizin Leiter des Psychologischen Instituts werden konnte, macht eine Besonderheit dieser Geschichte aus.

- Andererseits besteht die Geschichte eines Faches oder Wissensgebietes nicht aus heroischen und erfolgreichen, bis in die heutige Zeit wirkenden oder wenigstens über geistig-personelles und institutionelles Erbe nachwirkenden Ereignissen, sondern sie enthält auch immer eine Vielzahl vergeblicher Bemühungen, versandeter Traditionen, unwirksam oder kaum öffentlich gewordener Nebenzweige und Sackgassen, denen nachzuspüren im Sinne einer umfassenden Psychologiehistoriographie sicher berechtigt ist.

Kommen wir also nun zu den oft vergeblichen, manchmal erfolgreichen Bemühungen, an der Universität Heidelberg das Fach Psychologie einzurichten, zu den durch widrige Umstände, Zufälle, strukturelle Gegebenheiten oder zielgerichteten Willen zustandegekommenen und verlorengegangenen Besitztümern einer sich etablierenden Wissenschaft.

Dabei wird der in Heidelberg betriebenen psychologischen Forschung und Lehre nur in äußerst begrenztem Rahmen Raum gegeben werden können; dies trotz der Überzeugung, daß die Entwicklung eines Faches ohne sie schlechterdings nicht vorstellbar wäre. Wo es möglich war und sinnvoll erschien, verwiesen wir auf weiterführende Literatur. Die intellektuelle Geschichte der Psychologie an der Ruperto-Carola bleibt einer künftigen Studie vorbehalten.

Zuvor noch ein Wort zur Art der Historiographie.

"Im Zuge der historiographischen Neuformulierung des Trilemmas von Empirie, Konzeption und Kontrollierbarkeit der Erkenntnisstrukturen hat Hans Mommsen der Zeitgeschichtsforschung das Terrain abgesteckt: Ihr genuiner Auftrag sei die Synthese von Strukturanalyse und Chronologie, von Ideologiekritik und Organisationssoziologie" (2). Indessen, fährt der hier zitierte Autor fort, "gibt es noch zu viele Kenntnislücken..." Die Kenntnislücken auf dem Terrain der Psychologiehistoriographie, sofern sie eng an Quellen und Zeugnissen orientiert und über Institutionalisierungsproblematiken arbeitet, dürften nicht kleiner sein als die der Zeitgeschichtsforschung über den Nationalsozialismus, um die es im Zitat geht. Wir entschlossen uns daher zu einer eng am Detail arbeitenden, weitgehend chronologischen und möglichst sachorientierten Darstellung dessen, was gewesen ist. Das Hauptaugenmerk lag also auf dem Was, weniger schon auf dem Wie und kaum auf dem Warum. Daß Geschichte konstruiert wird, und daß dies auf mannigfaltige Weise geschehen kann (3), daß auch in der sachlichen Darstellung die Autoren ihre Spuren hinterlassen und auf nicht immer begründete Interpretationen, sei es in der Reihung der Ereignisse, sei es in der Auswahl der Textstellen, angewiesen bleiben, dürfte eine Selbstverständlichkeit sein.
 

 

Ib
Wilhelm Wundt und die Institutionalisierung der Psychologie

Man mag darüber streiten, ob man in Wilhelm Wundt (1832-1920) den oder nur einen Begründer der neueren Psychologie sehen soll. Tatsache ist, daß Wundts Auswirkungen wesentlich zur Gestalt der Einzelwissenschaft Psychologie beigetragen haben, daß aber Wundt selbst diese von der Philosophie abgetrennte Einzelwissenschaft so, wie sie entstanden ist, nicht gewollt hat (4). Doch das sollte den Theoretiker der "Heterogonie der Zwecke" nicht überrascht haben.

Wir beschränken uns auf den Heidelberger Wundt, der lange Zeit gegenüber dem Leipziger unbeachtet geblieben war, bis im Rahmen der Hundertjahrfeier der Institutionalisierung der Psychologie (1979) auch die "vor-institutionelle" Psychologie und damit "Wundt in Heidelberg" genauer untersucht wurden (5). Auf die dazu entstandene Literatur kann hier nur verwiesen werden. Wir beschränken uns auf wenige, unser Thema betreffende Punkte.

Wundt hat, sieht man von seiner Zeit als Schüler ab, studierend, forschend und lehrend 22 Jahre in Heidelberg verbracht (1852-1874). Charakteristisch für diese Zeit und bedeutsam für die sich herausbildende wissenschaftliche Psychologie war seine Doppelorientierung: (a) als experimentell arbeitender Naturwissenschaftler und (b) als historisch-vergleichender Völkerpsychologe.

ad (a): Als Physiologe, der sich zum Psychologen entwickelte, war er beeindruckt von der experimentellen Methodologie, wie er sie in den ersten und zum Teil noch bescheidenen Forschungslaboratorien jener Jahre, etwa bei Robert Bunsen und Herrmann Helmholtz in Heidelberg, zwischendurch bei Johannes Müller und Emil Du Bois-Reymond in Berlin kennen und beherrschen gelernt hatte. In Heidelberg hatte er in den fünfziger Jahren die Verselbständigung einer experimentell arbeitenden Physiologie von der Anatomie aus nächster Nähe erlebt. Sein Onkel, Friedrich Arnold, Professor der Anatomie, betrieb diese Loslösung. Mit Herrmann Helmholtz (1821-1894) wurde 1858 der erste Physiologe nach Heidelberg berufen und ein Physiologisches Institut geschaffen, dem innerhalb der Anatomie anscheinend ab 1845 ein "physiologisches Cabinett" und eine "physiologische Anstalt" vorangegangen waren (6). Die anfängliche Unterbringung im Haus "Zum Riesen" (heute Hauptstr. 52) war ein Provisorium, das auch mit dazu beigetragen haben mag, daß der junge Wundt, ab 1858 Assistent bei Helmholtz, sich ein privates Laboratorium einrichtete, was übrigens unter den Naturwissenschaftlern dieser Zeit keine Seltenheit war. Das Provisorium endete, als auf dem Gelände des ehemaligen Dominikanerklosters, Hauptstraße Ecke Brunnengasse, schon seit 1804 Domizil von Anatomie und Naturwissenschaften, mit dem "Friedrichsbau" ein Neubau für Naturwissenschaftliche Institute errichtet wurde, in dem Herrmann Helmholtz und Gustav Kirchhoff 1863 ihre Laboratorien (und Dienstwohnungen) einrichteten. Wundt selbst hat von dem neuen Forschungslabor nur noch wenig profitiert, weil er, von der "Nutzlosigkeit" des physiologischen Praktikums überzeugt, seine Assistentenstelle in Helmholtzens Labor aufgab und sich wiederum in seiner Wohnung "einige Zimmer als kleines physiologisches Labor" einrichtete (7), das er auch als außerplanmäßiger (ab 1871 planmäßiger) außerordentlicher Professor bis zu seiner Wegberufung nach Zürich im Jahre 1874 beibehalten haben dürfte.

Es ist diese aus er Physiologie entwickelte Konzeption einer naturwissenschaftlichen Psychologie, die des Experiments als Methode und damit des Laboratoriums als Forschungsstätte bedarf, die Wundt in Heidelberg in Vorlesungen ab 1862 ("Psychologie vom naturwissenschaftlichen Standpunkt"; ab WS 1872/73 "Physiologische Psychologie"), vor allem aber in einer Reihe von Veröffentlichungen vertrat, deren früheste psychologische ab 1858 in "Henle und Pfeufers Zeitschrift für rationelle Medizin" erschienen und die erste weithin rezipierte Forschungsmonographie Wundts ergaben, nämlich seine "Beiträge zur Theorie der Sinneswahrnehmung" (1862), denen ein Jahr später die zweibändigen über die "Menschen- und Thierseele" folgten. Noch bevor er Heidelberg verließ, erschienen die beiden Bände seines Hauptwerks - der "Physiologischen Psychologie" (9), ein Buch, das bis 1923 sieben Auflagen erbrachte und den Charakter des ersten Standardwerkes und Lehrbuches der experimentellen Psychologie erwarb. Schon dadurch läßt sich die Auffassung rechtfertigen, daß Wilhelm Wundt innerhalb der gut zwanzig Jahre, die er in Heidelberg wirkte, zur Instituierung der Psychologie als Wissenschaft wesentlich beigetragen hat.

ad b): Doch werfen wir noch rasch einen Blick auf die zweite Orientierung, die er der neueren Psychologie geben wollte, die "anthropologische". Im Vorlesungsverzeichnis der Ruperto-Carola bot er, 1857 habilitiert, ab WS 1859/60 regelmäßig Vorlesungen über Anthropologie (Naturgeschichte des Menschen) bzw. Ethnographie an; den Ausdruck "Völkerpsychologie" verwendete er als Vorlesungstitel erst ab SS 1875 in Zürich.

Entscheidend aber ist, daß er erstmals in seinen Vorlesungen von 1863 die Auffassung von der Komplementarität von experimenteller und historischer (und statistischer) Methodik als für die wissenschaftliche Psychologie verbindlich vertrat (10), eine Auffassung, die er in seinem letzten Werk, seiner Autobiographie (11), noch einmal nachdrücklich unterstrichen hat. Insofern kann man auch von dieser Seite her sagen, Wundt habe die Psychologie in seiner Heidelberger Zeit In Vorlesungen und Veröffentlichungen entscheidend instituiert.

Wenn gleichwohl Zweifel angebracht sind, so stützen sich diese auf den historiographischen Umstand, daß außer bei einigen Fachhistorikern (vornehmlich in den letzten zehn Jahren) der Heidelberger gegenüber dem anschließenden Leipziger Wundt wenig bekannt ist. Nicht einmal in der Heidelberger Universitätsgeschichte figuriert sein Name. Dabei reicht die Wundt-"Dynastie" in Heidelberg vom Theologieprofessor Johann Jakob Wundt (1701-1771) über dessen drei Söhne bis zu dem zeitgenössischen Professor für Hygiene, Wilhelm Wundt, einem Enkel des Psychologen. Noch in der Festschrift zur 600-Jahr-Feier ist lediglich die Rede davon, daß "auch der berühmte Leipziger Psychologe Wilhelm Wundt, der in Heidelberg als Privatdozent begann, ... zu dieser Familie (gehörte)" (12). Liegt in diesem Satz des Heidelberger Historikers die Antwort auf unsere Frage dergestalt, daß Wundt eben in Heidelberg nur Privatdozent bzw. "Nichtordinarius" war, also über keinen Lehrstuhl, kein Institut, keine Assistenten und Doktoranden verfügte und damit in Heidelberg - ohne institutionelle Infrastruktur - nur wenig zur akademischen Etablierung der wissenschaftlichen Psychologie beitragen konnte? Es wäre dann auch nicht mehr erstaunlich, wenn er, erst nachdem er einen Leipziger Lehrstuhl für Philosophie innehatte, seine beachtliche und weltweite Wirksamkeit entfalten konnte mit dem, was er aus Heidelberg mitgebracht hatte. Dazu gehörten. die Konzeption einer wissenschaftlichen Psychologie, eine weitgehend im Selbststudium erworbene Philosophie und die Einrichtung seines Privatlabors, das er noch Jahre, auch nach der sogenannten Gründung des Leipziger Instituts verwendete, bis er ab 1882 Staatsunterstützung erhielt (13). Man kann mit Bringmann u.a. die Summe der Heidelberger Jahre ziehen: "... Wundt was an experienced, self-taught expert in laboratory work when he left Heidelberg in 1874. He had worked for nearly 23 years in various research facilities as a student, teaching assistant and finally as an independent scholar in his private psycho-physiological institute. He has recognized early that the quality of personalized instructions was crucial in laboratory work" (14); nur sollte man statt von seinem Privatinstitut bescheidener von seinem Privatlabor sprechen.

Mit Wundts Weggang verschwanden also auch die ersten protoinstitutionellen Laboratorien für experimental-psychologische Forschung aus Heidelberg. Während sich in den Jahren nach 1875 im Heidelberger Vorlesungsangebot zwar noch Psychologie als Kollegthema im Rahmen der Philosophie findet, so durch Otto Caspari (1841-1917) (15), dem 1869 die venia für Philosophie verliehen, 1895 wieder entzogen wurde, dauerte es bis 1890, bis der erste der inzwischen im Leipziger Institut experimentell Ausgebildeten nach Heidelberg berufen wurde und - zwar immer noch im Rahmen der Medizinischen Fakultät und an deren Ausbildungs- und Forschungszwecken orientiert - ein experimental-psychologisches Laboratorium im Sinne seines Lehrers einrichtete: Emil Kraepelin.

Umgekehrt - und auch das mag die Macht der Institution demonstrieren - hat Wilhelm Wundt, der nur ein Semester Philosophie in Tübingen studiert hatte, in seiner ganzen Heidelberger Zeit außer einer Vorlesung (für Hörer aller Fakultäten) "Philosophische Ergebnisse der Naturforschung" keine explizit philosophische Lehrveranstaltung angeboten, noch Philosophisches publiziert. Mit der Berufung auf den Züricher Lehrstuhl für "Inductive Philosophie", genauer mit seiner dortigen Antrittsvorlesung "Über die Aufgabe der Philosophie in der Gegenwart" erweist er sich in Vorlesungen und Publikationen als der Philosoph, als der er, in Zürich wie in Leipzig, berufen wurde und als den Helmholtz ihn gutachtlich ausdrücklich empfohlen hatte. Es kann nur das neue "Amt", also die Institution gewesen sein, die aus dem Physiologen und Psychologen dann auch noch den berufenen Philosophen Wundt machte.

 



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12.10.1998