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II
Die Wilhelminische Zeit

 

IIa
Erste Verankerung der Psychologie in der Medizinischen Fakultät

(1)
Emil Kraepelin


Schwere Wolken hingen über der russisch-baltischen Stadt Dorpat, als am Morgen des 9. November 1890 Emil Kraepelin von seiner Berufung nach Heidelberg erfuhr (1). Er war seit mehr als vier Jahren Professor für Psychiatrie und Direktor der Psychiatrischen Klinik der dortigen Universität gewesen. Die Situation für deutsche Professoren war bedrückend geworden. Bereits 1816 hatte Zar Alexander III die Russifizierung der Ostseeprovinzen angeordnet, und ab 1889 wurde die deutschsprachige Universität in eine russische Bildungsanstalt umgewandelt (2). Vielleicht hatte sich deshalb das für Heidelberg zuständige Karlsruher Ministerium über den Vorschlag der Medizinischen Fakultät hinweggesetzt und den als Zweiten Placierten auf die freiwerdende Lehrkanzel für Psychiatrie berufen (3). Als ausschlaggebend wurde allerdings dessen bemerkenswert vielseitige Vorlesungstätigkeit angegeben (4), die neben der regelmäßigen "Psychiatrischen Klinik" diagnostische, forensische sowie psychologische Themen umfaßte und im Winter 1888 einen Cursus "Anleitung zu experimentell-psychologischen Arbeiten im psychologischen Laboratorium" aufwies (5).

Kraepelin war Irrenarzt geworden, "weil so die einzige Möglichkeit gegeben schien, psychologisches Arbeiten mit einem näheren Berufe zu verbinden" (6). - Nachdem er bereits 1877 während seines Medizinstudiums Wilhelm Wundt kennengelernt und dessen "Psychologische Besprechungen" besucht hatte, schrieb er ihm im Januar 1881 von München aus mit der Bitte, im Psychologischen Institut arbeiten zu dürfen. "Dem in seinem Brief sehr spürbaren Wunsch, im Hauptfach für sein ganzes Leben Psychologe werden zu können, versagte sich Kraepelin allerdings, weil ihm nur die Psychiatrie Existenzmöglichkeit geben könne. Er erkundigte sich vielmehr, ob die damals verwendeten Methoden der Psychologie ‘sich mit Aussicht auf Erfolg für die Psychiatrie verwenden’ ließen" (7). Obwohl Wundts Antwort skeptisch ausfiel (8), siedelte Kraepelin 1682 nach Leipzig über, wo er für kurze Zeit eine Anstellung in der neuerrichteten Psychiatrischen Klinik fand, um unter Wundts Anleitung an Experimenten zur psychischen Beeinflussung durch verschiedene Giftstoffe zu arbeiten (9). "Wundts große Gestalt hatte ihn in seinen Bann gezogen und sein Herz gehörte lange der experimentellen Psychologie" (10). - Ohne diese Psychologie aufzugeben, habilitierte er sich nach anfänglichen Schwierigkeiten an der Universität Leipzig für Psychiatrie, ging nochmals nach München, war Oberarzt in Leubus und Dresden und wurde schließlich ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Dorpat.

Bereits im Sommersemester 1867 bot Kraepelin "Ausgewählte Capitel aus der experimentellen Psychologie" an und richtete ein Semester später nach Wundts Vorbild "Psychologische Besprechungen" ein, wodurch er Studierende gewann, die ihn in seiner eigenen psychologischen Arbeit unterstützen konnten (11)."Der Boden für die Heranbildung einer psychologischen Schule war in Dorpat günstig" (12). Der Physiologe Alexander Schmidt hatte ihm in dessen Institut einen Raum zur Verfügung gestellt, in dem er ein experimentalpsychologisches Laboratorium einrichtete und in dem seine Schüler arbeiten konnten. - Er selbst setzte seine Giftexperimente fort und begann mit Versuchen zur Arbeitskurve (13).

Als Kraepelin schließlich fünfunddreißigjährig am 24. April 1891 seinen Dienst als Direktor der Großherzoglich Badischen Universitäts-Irrenklinik in Heidelberg antrat, hatte er schon "besonders zahlreiche experimentell-psychologische Arbeiten gemacht und die Ergebnisse derselben in die Psychiatrie einzuführen gesucht" (14). Er konnte mithin nicht nur auf klinisch-psychiatrischem Gebiet Erfahrungen vorweisen, sondern war auch im Bereich der experimentellen Psychologie als Forscher und Lehrer tätig gewesen.

 

(2)
Das experimentell-psychologische Laboratorium


 


Die 1878 eröffnete Irrenklinik besaß an wissenschaftlichen Räumen lediglich ein einfenstriges, kleines anatomisches Laboratorium sowie ein Zimmer für die bescheidene Bibliothek (15). Laut ihres Statuts war ihr Zweck "Heilung und Verpflegung Seelengestörter und wissenschaftlicher Unterricht in Psychiatrie" (16). Wie sein Vorgänger hielt Kraepelin diesen Unterricht ab seinem ersten Heidelberger Semester als dreistündige "Psychiatrische Klinik". Im Winter 1891/92 kam eine Vorlesung "Physiologische Psychologie" hinzu, sowie die "Anleitung zu wissenschaftlichem Arbeiten im Laboratorium der Klinik" (17).

Kraepelin schwebte "als Ideal eine psychiatrische Wissenschaft vor, die auf der festen Grundlage experimenteller Studien aufgebaut sei" (18). Solche Studien suchte er unter anderem in der experimentellen Psychologie zu gewinnen, die für ihn ein Zweig der Physiologie, gar eine "wirkliche Physiologie der Seele" war. "Was aber würden wir sagen, wenn man über Physiologie Vorlesungen halten oder gar Bücher schreiben wollte, ohne jemals selbst im Laboratorium gearbeitet zu haben" (19)? Also suchte er neben der eifrig betriebenen klinischen Forschung auch die experimentelle Psychologie zu fördern.

Zunächst setzte er seine Giftversuche fort, deren Ergebnisse unter dem Titel "Über die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige Arzneimittel" 1892 erschienen (20).


Abb. 1: Emil Kraepelin (ca. 1900)

Gleichzeitig richtete er an der Klinik ein psychologisches Laboratorium ein, um Schüler zu wissenschaftlichen Arbeiten heranzuziehen, wobei er von dem am 6. Juli 1891 als Assistenzarzt an die Klinik gekommenen Gustav Aschaffenburg unterstützt wurde (21).

Für den ersten, im Wintersemester 1892/93 eingerichteten Cursus "Experimentell-psychologische Arbeiten" hatten sich bereits zwei Studenten angemeldet (22). Siegfried Bettmann, der schon für die "Physiologische Psychologie" eingeschrieben war, hatte im August mit seinen Versuchen "Über die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch körperliche und geistige Arbeit" begonnen, zum Teil zusammen mit dem "Über die psychischen Erscheinungen der Erschöpfung" arbeitenden Aschaffenburg. Ernst Roemer beschäftigte sich mit der Beziehung zwischen Nahrunqsaufnahme und geistiger Leistungsfähigkeit (23).

Aber bald genügten die vorhandenen Apparate den Anforderungen nicht mehr. Kraepelin wandte sich deshalb am 19. Januar 1893 an das Ministerium.

"Wir erlauben uns ... auf den schon früher gestellten Antrag der Beschaffung eines möglichst vollkommenen Kymographions nunmehr wieder zurückzukommen. Das genannte Instrument ist für die Fortsetzung der nunmehr schon von 3 Herren dauernd betriebenen experimentell-psychologischen Untersuchungen durchaus unentbehrlich; der Preis stellt sich auf 800 Mark. Wir bitten daher ganz ergebenst, uns die Verfügung dieser Summe für den bezeichneten Zweck zu gestatten" (24) (vgl. Abb. 2, S. 19). Mit Erlaß vom 2. Februar wurde der Direktion der Irrenklinik jedoch beschieden, "daß mit Rücksicht auf den Stand der Mittel die Anschaffung eines Kymographions noch einige Zeit verschoben werden sollte, bis sich die Ergebnisse des bisherigen Betriebs besser übersehen lassen, sofern dasselbe nicht aus der im Voranschlag für wissenschaftliche Instrumente etc zur Verfügung gestellten Summe angeschafft werden kann" (25).  

Abb. 2: Amtliche Abschrift des Schreibens Kraepelins vom 19.Januar 1893

Etwa zur selben Zeit richtete Friedrich Runne im Physiologischen Institut eine Werkstätte für "Präcisions-Mechanik" ein, mit dessen Hilfe dann viele der benötigten Apparate beschafft werden konnten (26). Zum Teil wurden die Instrumente von den Experimentatoren selbst entworfen. - So konstruierte Roemer für seine Versuche einen optischen Reizapparat und ließ diesen bei Runne herstellen (27).


Abb. 3: Reizapparat nach Roemer .

Im Sommersemester 1893 war Emil Amberg zu den "wissenschaftlichen Arbeitern gestoßen, und für Kraepelins "Psychologische Besprechungen" trugen sich 14 Studierende ein (28). Die vergebenen Dissertationen deckten mit der Zeit den gesamten von Kraepelin als wichtig erachteten Fragenbereich ab; bald kamen Arzneimittelstudien hinzu, die Arbeitspsychologie wurde fortgeführt; man begann, mit Kranken zu experimentieren (29).

 

(3) Psychologische Arbeiten


Anfang 1894 war das Psychologische Laboratorium an der Klinik etabliert (30). Als der Rechnungsabschluß für 1893 einen Überschuß von mehr als 9000 Mark ergeben hatte, schrieb Kraepelin am 20. Januar 1894 ans Ministerium:

"Es wird daher möglich sein eine Reihe von Anschaffungen zu machen, welche für die Weiterentwicklung der Klinik zur besseren Lösung ihrer praktischen und ihrer wissenschaftlichen Aufgaben notwendig erscheinen...
Für wissenschaftliche Zwecke schlagen wir vor, 1.200 M anzusetzen, und zwar a. zur Beschattung einiger unentbehrlicher Instrumente für das psychologische Laboratorium (Großes Stativ, Schriftwaage, Zeitschreiber, Stimmgabel-Schreiber) 500 M, b. ..." (31)
Drei Tage später bewilligte man "für wissenschaftliche Zwecke (Instrumente, Literatur, etc) 900 M." (32).

Als im Dezember schließlich ein Beamter des Ministeriums die Klinik besuchte, konnte er in seinem Visitationsprotokoll vermerken:

So gewannen Kraepelins Bestrebungen, die psychologische Forschung für die Psychiatrie nutzbar zu machen, "allmählich immer festere Gestaltung". Einzelne Arbeiten seiner Heidelberger Schule waren zu den Dorpatern hinzugekommen, und es schien geboten, ihren inneren Zusammenhang auch "äußerlich in eine gewisse engere Verbindung zu bringen." Er entschloß sich "daher, sie nunmehr in Form von zwanglosen Heften gemeinsam herauszugeben, nachdem die regelmäßige Fortführung des Werkes einigermaßen gesichert" erschien (34). Noch Ende 1894 wurde das erste Heft der "psychologischen Arbeiten" veröffentlicht, in denen künftig die Ergebnisse der psychologischen Schule Kraepelins der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten (35).

Abb. 4: Titelblatt und Vorwort der "Psychologischen Arbeiten"

Das Jahr 1895 brachte die Habilitation des inzwischen Hilfsarzt gewordenen Aschaffenburg. Jener hatte im Juli bei der Fakultät seine "Experimentellen Studien über Associationen; Teil 1: Die Associationen im normalen Zustand" als Habilitationsschrift eingereicht. Nachdem er am 11. Dezember seine Probevorlesung gehalten hatte, habilitierte ihn die Fakultät zwei Tage später mit der ersten Note (36). Noch in diesem Winter bot er eine "Praktische Einführung in die experimentelle Psychologie" an, die bis zu seinem Weggang 1901 neben Vorlesungen zu forensischen Themen eine regelmäßige Einrichtung blieb.

Unterdessen war das psychologische Laboratorium weiter ausgebaut worden. Für Aschaffenburgs "Einführung" hatten sich im Sommer 1896 bereits 20 Studierende eingeschrieben (37). So wandte sich Kraepelin am 25. Juli 1896 erneut ans Ministerium:

"Die allmähliche Ausdehnung des wissenschaftlichen Betriebs in unserer Klinik, namentlich der Arbeiten im psychologischen Laboratorium, haben schon wiederholt zur Einstellung freiwilliger Hilfsarbeiter geführt." Deshalb möge man ihm gestatten, "nach Bedarf die Stelle eines weiteren Volontärarztes einrichten zu können". Dieser solle weder Wohnung noch Bezüge erhalten, lediglich einen Eintrag ins Adressbuch der Universität. "Irgendwelche Verpflichtungen würden aus dieser Einrichtung, die sich an diejenige eines wissenschaftlichen Assistenten In der chirurgischen Klinik anlehnt, nicht erwachsen." Das Ministerium entsprach den vorgetragenen Wünschen, und am 13. August konnte als zweiter Volontärarzt Ernst Roemer eingestellt werden (38). Dieser kam gerade von dem in München tagenden Dritten Internationalen Congress für Psychologie, wo er am 6. August "Über einige Beziehungen zwischen Schlaf und geistigen Thätigkeiten" referiert und nebenbei die internationale Öffentlichkeit mit der Existenz eines Heidelberger experimentalpsychologischen Laboratoriums vertraut gemacht hatte. In der mit "Psychopathologie und criminelle Psychologie" betitelten Sektion III hatte zwei Tage zuvor Aschaffenburg über "Psychologische Versuche an Geisteskranken" vorgetragen (39).

Auch später sollte es nicht an Mitarbeitern im psychologischen Laboratorium fehlen. Aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Schweden, Norwegen, Italien, England, der Schweiz, Rußland und natürlich aus Deutschland reisten sie herbei, um bei Kraepelin Experimente durchzuführen. "Das wichtigste Ergebnis aller dieser Untersuchungen, von denen freilich auch so manche unvollendet blieben, war die Gewinnung eines tieferen Einblicks in das Zustandekommen der Arbeitskurve, die Zergliederung der Einflüsse, deren Zusammenwirken in jedem Augenblick der Arbeit die Höhe der Leistung bestimmte" (40). Die Früchte dieser Arbeit veröffentlichte Kraepelin 1902 in dem als Festschrift für seinen Freund und Lehrer Wundt herausgegebenen 19. Band der "Philosophischen Studien" (41).

 

(4)
Willy Hellpach in Heidelberg

Ein anderer Beitrag zu dieser Festschrift war ebenfalls in Heidelberg entstanden: Willy Hellpachs "Psychologie und Nervenheilkunde" (42).

Hellpach war am 1. Oktober des Jahres 1899 zum erstenmal nach Heidelberg gekommen. - Die sommers hier übliche und vielbesuchte Schloßbeleuchtung, die anläßlich des 21. Kongresses der "Association litteraire et artistique internationale" veranstaltet worden und bestens verlaufen war, hatte Hellpach um einen Tag verpaßt, was ihn aber nicht hinderte, auch ohne Beleuchtung zum Schloß zu stürmen, offenen Wein, süddeutsches Ochsenfleisch und die schäumenden und billigen bayrischen Biere kennenzulernen. Und als er dann noch über die Neckarbrücken hin- und hergewandert war und vom Philosophenweg das zauberhafte Bild mit seinen Bergrücken in sich eingesogen hatte, fühlte er sich auf einem Lebensgipfel. Weinselig schlummerte er ein, mit dem löblichen Vorsatz, anderntags bei Kraepelin mit der Empfehlung vorzusprechen, die ihm sein Doktorvater Wundt mitgegeben hatte.

(Nach bestandener Promotionsprüfung und weil er Nervenarzt werden wollte, beabsichtigte er, sein Medizinstudium in Heidelberg abzuschließen, um endlich an der Irrenklinik arbeiten zu können.) Aufgrund geopsychischer Erscheinungen erlitt er am Morgen danach eine Nervenkrise . Alles geriet ins Wanken. Auf den Büros hatte er Schwierigkeiten mit dem pfälzischen Tonfall, die Studentenbuden erschreckten ihn, schließlich aß er schlecht zu Mittag. Und plötzlich kamen ihm ob seiner Vorhaben Zweifel. Als Kraepelin, den er in dessen Wohnung in der Scheffelstraße zur Sprechstunde aufsuchte, es war am 3. Oktober gegen vier Uhr nachmittags, seine Bedenken teilte, andererseits aber auch keinen Wert darauf zu legen schien, daß Hellpach bei ihm studiere, bevor er in die Klinik einträte, verabschiedete dieser sich, stürmte über die alte Brücke und die Hauptstraße entlang in den Badischen Hof, verlangte die Rechnung und reiste mit dem Schnellzug Richtung Leipzig davon - nicht ohne zuvor noch einen Pfälzer getrunken zu haben (43).

Nach seiner Approbation in Greifswald kehrte er zwei Jahre später, im Oktober 1901 (44), nach Heidelberg zurück, um an der Irrenklinik eine unbezahlte Volontärarztstelle anzutreten und bei Kraepelin zu promovieren. Dieser war jedoch mit Hellpachs Vorschlag, die Zeitgesetzlichkeit der Seelenstörungen zu behandeln, nicht einverstanden und gab ihm ein in den Kreis der Heidelberger psychologischen Untersuchungen passendes Thema. Hellpach "gehorchte widerwillig, fing aber besten Vorsatzes an - schon beim ersten Bericht nach vier Wochen merkte er ... daß /Kraepelin/ ... etwas ganz bestimmtes ,heraushaben' wollte, .../er hat/ dann die Arbeit einfach liegenlassen (45). - Schließlich hatte er ja auch sonst genug zu tun. Bis Februar waren die im Herbst begonnenen fünfhundert Seiten der "Grenzwissenschaften" geschrieben, sowie der erwähnte Beitrag zu seines "Meisters Wundt siebzigstem Geburtstages" (46). - Im September 1902 ging Hellpach an die Poliklinik nach Berlin.
 

(5)
Kraepelins Abschied von der Irrenklinik

Unterdessen war Aschaffenburg der Titel eines außerordentlichen Professors verliehen worden (47). In seinem Gutachten an die Medizinische Fakultät hatte Kraepelin geschrieben:

"Herr Dr. Aschaffenburg hat ... eine recht fruchtbare Lehrthätigkeit entfaltet ... Es ist ihm nicht nur gelungen, die experimentelle Psychologie derart vorzutragen, dass sie von Studierenden aller Facultäten regelmäßig und reichlich besucht wurde, sondern auch solche Vorlesungen sind bei ihm zu Stande gekommen, die wegen ihres speziellen Inhaltes sonst nur selten auf Theilnahme rechnen dürfen, wie die allgemeine Psychiatrie und die Diagnostik der Geisteskrankheiten. Besonders dankenswerth ist es aber gewesen, dass Herr Dr. Aschaffenburg die Pflege der gerichtlichen Psychiatrie und der Criminalpsychologie eifrig betrieben und damit die wichtigen Grenzgebiete zwischen Medicin und Rechtswissenschaft an unserer Universität vertreten hat. Insbesondere die Vorlesung über Criminalpsychologie ... dürfte in dieser Form nur an wenigen Universitäten gehalten werden" (48). Am 21. Februar 1901 trat Aschaffenburg dann auf eigenen Wunsch aus der Klinik aus und nahm die Stelle eines leitenden Arztes an der Beobachtungsabteilung für geisteskranke Verbrecher in Halle an der Saale an (49). Die "Einführung in die experimentelle Psychologie" besorgte nun wieder Kraepelin, bis sie vom Winter 1902/03 an von Robert Gaupp gehalten wurde, den Kraepelin 1900 an die Klinik geholt hatte (50).

"Am 20. Juni 1903 unterrichtete Kraepelin die Fakultät von dem an ihn ergangenen Ruf nach München" (51). – "Die Zustände in /seiner/ ... Klinik waren inzwischen immer unerquicklicher geworden. Zwar hatte sich das wissenschaftliche Leben unter dem Einfluß /seiner/ ... treuen Mitarbeiter in erfreulicher Weise gehoben, aber die unerträgliche Überfüllung wuchs weiter an, so daß an eine geordnete Fürsorge für die Kranken nicht mehr zu denken war. Alle /seine/ ... Bemühungen, diese Verhältnisse zu bessern, scheiterten an dem starren Widerstande des Ministeriums des Innern ... Bei einem Besuch in München fand er dagegen ganz andere Verhältnisse vor, und er mußte "gestehen, daß hier die reichsten Entwicklungsmöglichkeiten für jede Art von wissenschaftlicher Arbeit gegeben seien". - Und doch wollte er in Heidelberg bleiben. Eine Delegation der Medizinischen Fakultät unterstützte ihn bei seinen Bemühungen, Zugeständnisse beim Innenministerium zu erreichen, aber am 10. Juli waren die Verhandlungen gescheitert, und Kraepelin nahm den Ruf an. /Er/ tat es mit dem Gefühl, daß /er/ der Wissenschaft /sein/ persönliches Glück zum Opfer bringe" (52).

Am 1.Oktober 1903 schied Emil Kraepelin aus dem badischen Staatsdienst aus (53).
 


Abb. 5: Aus dem Jahresberichte der Großherzoglich Badischen Irren-Anstalten für die Jahre 1901/1902

Nachfolger auf dem Lehrstuhl und Klinikdirektor wurde zum Sommersemester 1904 Karl Bonhoeffer (54). Als dieser einen Ruf nach Breslau angenommen hatte, ernannte der Großherzog am 22. Juni 1904 den bisherigen Hilfsarzt und außerordentlichen Professor Franz Nissl zum Ordinarius der Psychiatrie und Direktor der Irrenklinik (55).

Mit ihm kam ein ausgesprochener Hirnanatom auf den Lehrstuhl (56), und als Ende September 1904 Gaupp, der bislang die Psychologie in der Lehre weitervertreten hatte, Kraepelin nach München folgte, war die Zeit experimentalpsychologischer Vorlesungen innerhalb der Medizinischen Fakultät zunächst vorbei.


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17.6.04
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