(3) Pragmalinguistische Beschreibung und Analyse argumentativer Unintegrität

Die pragmalinguistische Analyse von Beispielen potentieller argumentativer Unintegrität erfolgte unter zwei Zielsetzungen: (a) Identifikation gesprächsbeschreibender Faktoren, die mit dem Auftreten argumentativer Unintegrität kovariieren; (b) Herausarbeitung typischer sprachlicher Manifestationen von Standardverletzungen. Unter dieser Zielperspektive wurde ein umfassendes pragmalinguistisches Beschreibungs- und Analysemodell entwickelt, das es erlaubt, Argumentationsepisoden auf folgenden Ebenen zu analysieren: Analyse der Kommunikationssituation (Kodierung im Hinblick auf setting, Gesprächstyp, Teilnehmer/innen, globale Situationseinschätzung); Analyse der Gesprächsstruktur (Verlaufsstruktur und Gesprächsentfaltung) unter thematischer, inhaltlich-interaktiver sowie argumentativer Perspektive; Analyse der objektiven Tatbestandsmerkmale (von 'außen' beobachtbare argumentative Regelverletzungen) auf interaktioneller, propositional-inhaltlicher sowie argumentativer Ebene; Analyse der subjektiven Tatbestandsmerkmale (subjektive Bewußtheit bei der Herbeiführung einer Regelverletzung) auf interaktiver, sprachlich-inhaltlicher und argumentativer Ebene einschließlich der Rekonstruktion potentieller Entschuldigungsgründe; Synthese (Herausarbeiten von Sprecher/innen-Strategien). Nachfolgend ist das Beschreibungsmodell im Überblick aufgeführt (Sachtleber & Schreier 1990; Schreier & Christmann 1993; zu weiteren Analyseperspektiven vgl. Schreier 1996):

 

1. Analyse der Kommunikationssituation

1.1. Ergebnisse der Kodierung situativer Faktoren

1.2. Ergebnisanalyse

 

2. Analyse der Gesprächsstruktur

2.1. Verlaufsstruktur 2.1.1. Gesprächsphase
2.1.2. Gesprächssequenz
2.1.3. kommunikativ-funktionale Einheiten: Gesprächsschritte
2.1.4. inhaltliche Einheiten: Gesprächsinhalte

2.2. Gesprächsentfaltung

2.2.1. Thematische Entfaltung des Gesamtgesprächs
2.2.2. Analyse der inhaltlich-interaktionellen Struktur
2.2.2.1. gesprächsorganisatorischer Aspekt
2.2.2.2. kontaktbezogener Aspekt
2.2.2.3. inhaltlicher Aspekt

2.2.3. Realisation des argumentativen Musters

2.3. Zusammenfassung

 

3. Analyse der objektiven Tatbestandsmerkmale

3.1. Manifestationen auf interaktioneller Ebene
3.2. Manifestationen auf propositionaler Ebene
3.3. Manifestationen auf argumentativer Ebene
3.4. Zusammenfassung

 

4. Analyse der Indikatoren subjektiver Tatbestandsmerkmale

4.1. Mögliche Indikatoren subjektiver Tatbestandsmäßigkeit
4.1.1. interaktionelle Indikatoren
4.1.2. sprachliche Indikatoren
4.1.3. inhaltliche Indikatoren
4.1.4. argumentative Indikatoren
4.1.5. sonstige Indikatoren

4.2. Rekonstruktion potentieller Entschuldigungsgründe

4.3. Zusammenfassung

 

5. Synthese

Herausarbeiten von Sprecherstrategien

Dieses Modell wurde bislang auf 50 Konfliktgespräche zwischen Müttern und Töchtern (Mitschnitte authentischer Argumentationsepisoden) angewandt. Dabei ließen sich in 30 Gesprächen 72 Fälle argumentativer Regelverletzung nachweisen. Für diese 30 Gespräche wurde eine Systematisierung und Klassifikation der Analyse-Ergebnisse sowie eine deskriptiv- und (bei hinreichend großem N) inferenzstatistische Auswertung vorgenommen (Schreier 1993).

Die Ergebnisse zeigen zunächst, daß insgesamt Verletzungen der Standards Nr. 11 (Abbruch) und 8 (Diskreditieren) am häufigsten auftreten; Verletzungen der Standards 9 (Feindlichkeit) und 7 (Unerfüllbarkeit) treten am seltensten auf. Differenziert man zwischen Müttern und Töchtern, so zeigt sich, daß Mütter tendenziell gehäuft die Standards 'Abbruch' (11) und 'Diskreditieren' (8) verletzen, Töchter dagegen häufiger die Standards 'Sinnentstellung' (Nr. 6) und 'Beteiligungsbehinderung' (Nr. 10). Hinsichtlich der Frage nach den gesprächsbeschreibenden Faktoren, die mit dem Auftreten argumentativer Unintegrität kovariieren, ist grundsätzlich zwischen Müttern und Töchtern zu unterscheiden; während das Gesprächsverhalten der Mütter (insbesondere hoher Anteil an Zielformulierungen) einen relevanten Prädiktor für argumentative Unintegrität seitens der Töchter darstellt, gilt dies nicht im umgekehrten Fall. Darüber hinaus ließen sich für einzelne Standards typische sprachliche Realisationsformen herausarbeiten. So ließ sich beispielsweise für den Standard Nr. 4 ('Verantwortlichkeitsverschiebung') zeigen, daß hier Verletzungen mit dem Initiieren/Wiederaufgreifen eines eigenen Themas in Form von Gegenthese oder Pro-Argumenten verbunden sind. Für diese Standardverletzung sind neben den definitorischen objektiven Tatbestandsmerkmalen auch insbesondere die Tatbestandsmerkmale auf der argumentativen Ebene (unzureichende Begründungen) charakteristisch. Als typisches Mittel zur Herbeiführung von Verantwortlichkeitsverschiebungen erweisen sich Verletzungen des Standards 'Wahrheitsvorspiegelung'. Insgesamt sind die Verletzungen dieses Standards sehr explizit und vergleichsweise wenig komplex (zumindest in den analysierten Konfliktgesprächen).

Die Ergebnisse der pragmalinguistischen Analysen (Schreier et al. 1993; Schreier & Groeben 1995) werden als Heuristik zur Generierung von Hypothesen genutzt, die dann im Rahmen von empirisch-experimentellen Untersuchungen überprüft werden (vgl. Punkt 5).

Publikationen

Schreier, M. & Christmann, U. 1993: Ein pragmalinguistisches Modell zur Beschreibung und Analyse argumentativer Unintegrität. In: Löffler, H. (ed.), Dialoganalyse IV. Referate der 4. Arbeitstagung Basel 1992. Tübingen: Niemeyer, 351-358.

Schreier, M., Groeben, N., Christmann, U., Nüse, R. & Gauler, E. 1993: Indicators of argumentational integrity in everyday communication. Argumentation 7, 205-219.

Schreier, M. & Groeben, N. 1995: Unfairness in argumentative discussions: Relevant factors and prototypical manifestations in spoken language. In: Eemeren, F. H. van, Grootendorst, R., Blair, A. J. & Willard, C. A. (eds.), Proceedings of the Third ISSA Conference on Argumentation Amsterdam 1994, Vol. III, 276-286.

Christmann, U. Schreier, M. & Groeben, N. (1996). War das Absicht? Indikatoren subjektiver Intentionalitätszustände bei der ethischen Bewertung von Argumentati­onsbeiträgen. Linguistik und Literaturwissenschaft, 101 (Themenheft 'Sprache und Subjektivität I'), 70-113.

Schreier, M. 1996: The relevance of topicality for the description of unfairness in argumentative communication. In: Dialoganalyse V. Referate der 5. Arbeitstagung, Paris, 1994. Tübingen: Niemeyer.

Schreier, M. & Groeben, N. 1996: Ethical guidelines for the conduct in argumentative discussions: an exploratory study. Human Relations, 49, 123-132.

Schreier, M. (1997a). The relevance of topicality for the description of unfairness in argumenta­tive communication. In E. Pietri (Hrsg.), Dialoganalyse V. Referate der 5. Arbeitstagung, Paris, 1994 (507-517). Tübingen: Niemeyer.

Schreier, M. (1997b). Das Erkennen sprachlicher Täuschung. Über Absichtlichkeitsindikatoren beim unintegren Argumentieren. Münster: Aschendorff.

Schreier, M. & Groeben, N. 1997: „Also ich glaube, daß wir dieses Thema jetzt abbrechen sollten!". Über das Argumentationshandeln von Müttern und Töchtern in Konfliktgesprächen. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 29 (1), 1-25.

 

Berichte des SFB 245

Sachtleber, S. & Schreier, M. 1990: Argumentationsintegrität (IV): Sprachliche Manifestationen argumentativer Unintegrität - ein pragmalinguistisches Beschreibungsmodell und seine Anwendung. Bericht Nr. 31. (154 S.).

Schreier, M. 1993: Argumentationsintegrität (XII): Sprachliche Manifestationsformen argumentativer Unintegrität in Konfliktgesprächen. Bericht Nr. 65. (194 S.).

 


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