(10) Anwendung: Training zu: Sensibilisierung für und Reaktionen auf unintegres Argumentieren

Nachdem wir die psychische Realgeltung und Bedeutsamkeit des Konstrukts ‘Argumentationsintegrität’ in der Alltagskommunikation in einer Reihe von empirischen Untersuchungen nachweisen konnten und zusätzlich Befunde vorliegen, die auf Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer Sensibilisierung im Umgang mit unintegrem Argumentieren verweisen (s.o. 1 bis 9), sollen die Ergebnisse jetzt zur Verbesserung individueller Diagnose- und Reaktionskompetenzen eingesetzt werden. Dazu wurde ein Trainingsprogramm (in Form einer Modul-Konzeption) ausgearbeitet, in dem die im Zusammenhang mit unintegrem Argumentieren relevanten Problemdimensionen aufgenommen und methodisch-didaktisch in Trainingsschritte umgesetzt werden. Ziel des Trainings ist es, für unintegres Argumentieren zu sensibilisieren und eine breite Palette von integren Reaktionsmöglichkeiten auf Integritätsverletzungen bereitzustellen. Das Training liegt für die Zielgruppe des mittleren und gehobenen Managements detailliert ausgearbeitet vor. Die didaktisch-methodische Gestaltung berücksichtigt Prinzipien neuerer konstruktivistischer Lerntheorien (authentische Argumentationsbeispiele, alltagsnahe Lernsituationen, multiple Perspektiven/Kontexte, kooperative Lernformen), greift darüber hinaus jedoch - insbesondere zur ökonomischen Vermittlung strukturierter Inhalte - auf eine Vielzahl weiterer, bewährter Lehr-Lern-Methoden und Moderationstechniken zurück, so daß insgesamt eine zielgruppenspezifische Anpassung der didaktischen Methoden gewährleistet ist. Dieser didaktisch-methodischen Flexibilität entspricht eine hohe inhaltliche Variablität: Neben drei Einführungsschritten (Warming-up, Problemdemonstration, Erwartungsexplikation/Modulselektion) umfaßt das Training sechs Trainingsdimensionen sowie einen Schlußschritt (Trainingsbewertung/Rückmeldung). Die sechs Trainingsdimensionen liegen in unterschiedlicher Ausführlichkeit jeweils als Kurz-, Lang- und Erweiterungsmodule vor und werden von den jeweiligen Teilnehmern/innen in Abhängigkeit von der insgesamt für das Training zur Verfügung stehenden Zeit zusammengestellt. Die Ziele der sechs Trainingsdimensionen werden im folgenden kurz vorgestellt.

1. Argumentationsbegriff und Bedingungen des integren Argumentierens

In mehreren Schritten werden in dieser Trainingsdimension der Argumentationsbegriff entwickelt, seine deskriptive und präskriptive Verwendungsweise verdeutlicht sowie die Bedingungen integren Argumentierens formuliert. Besonderer Wert wird darauf gelegt, den beruflichen Kontext der Teilnehmer/innen einzubeziehen und gemeinsam Möglichkeiten bzw. Grenzen des Argumentierens (im Management) herauszuarbeiten.

2. Merkmale des unintegren Argumentierens, Integritätsstandards und Sensibilisierung für Standardverletzungen

In der zweiten Trainingsdimension wird das System der 11 Standards der Argumentationsintegrität mit den jeweils zugeordneten unintegren Strategien vorgestellt. Für jeden der 11 Standards steht jeweils ein Kurz-, Lang- und Erweiterungsmodul zur Verfügung. Bei der Darstellung und bei den praktischen Übungsschritten werden zur Erleichterung des Transfers und aus motivationalen Gründen die verwendeten Beispiele unintegren Argumentierens in authentische Rahmenepisoden des beruflichen Kontextes ‘eingebettet’.

3. Manifestationen von Standardverletzungen und Absichtlichkeitsindikatoren

Die trainingsrelevanten Ergebnisse der pragmalinguistischen Beispielanalysen (vgl. oben Punkt 3) gehen in die Konzeption der dritten Trainingsdimension ein, in der mit den Teilnehmern/innen typische standardspezifische sprachliche Manifestationsformen unintegren Argumentierens und - auf unterschiedlichen Beschreibungsebenen - mögliche Absichtlichkeitsindikatoren erarbeitet werden.

4. Vorwerfbarkeit und moralische Bewertung von Integritätsverletzungen

Auf den grundlagenorientierten Befunden aufbauend wird in dieser Trainingsdimension zunächst erarbeitet, inwiefern die Bewertung argumentativer Sprechhandlungen als moralische Bewertung anzusehen ist. Das Basiskomponenten- und das Rahmenmodell moralischer Handlungsbewertungen werden dabei zur Präzisierung und Differenzierung der subjektiven Bewertungsstrukturen der Teilnehmer/innen eingesetzt und auf Argumentationsbeispiele aus ihrer beruflichen Praxis bezogen. In dieser Trainingsdimension soll verdeutlicht werden, welche Komponenten des moralischen Urteils (Basiskomponenten, schuldmindernde bzw. -erschwerende situative, personale und interaktive Bedingungen) berücksichtigt werden können bzw. sollen und inwiefern diese Aspekte die Bewertungen argumentativer Sprechakte begründen (können). Schließlich werden auch einige generelle Attributions- bzw. Urteilsverzerrungen anhand instruktiver Beispiele demonstriert.

5. Reaktionen auf Integritätsverletzungen

Ziel dieser Trainingsdimension ist die Vermittlung einer Bandbreite möglicher Reaktionen auf argumentative Unintegrität und deren Bewertung in Abhängigkeit von Kontextfaktoren einschließlich der kommunikativen Zielsetzung. Neben der Darstellung der Reaktionskategorien und der dimensionalen Binnenstrukturierung des Reaktionsraumes werden die (situations-, kontext- und zielabhängigen) Vorteile und Nachteile der folgenden 11 faktorenanalytisch gewonnenen Reaktionsklassen erarbeitet: 1. Kooperatives Übergehen, 2. Abwartende Intentionalitätsprüfung, 3. Aktive Klärung, 4. Selbstschutz/Verteidigung, 5. Defensives Übergehen, 6. Indirekte Thematisierung, 7. Direkte Thematisierung, 8. Konfrontative Diskussion, 9. Unintegrität, 10. Innerer Abbruch, 11. Offener Abbruch. Integre Reaktionen werden im Rahmen authentischer Rollenspiel-Settings des beruflichen Alltags eingeübt.

6. Rechtfertigung des Wertkonzepts ‘Argumentationsintegrität’

Diese Trainingsdimension thematisiert die grundsätzliche Frage, inwiefern sich das Wertkonzept ‘Argumentationsintegrität’ ethisch rechtfertigen läßt: Warum bzw. wozu soll man überhaupt integer argumentieren? Eine verbindliche Antwort auf diese Frage kann dabei angesichts der generellen ethischen Rechtfertigungsproblematik nicht erwartet werden. Im Anschluß an Habermas erscheint jedoch eine begrenzte, zielgruppenspezifische Rechtfertigung in folgender Weise möglich: Für rationales und kooperatives Argumentieren sprechen auch in effizienzorientierten Unternehmen ‘gute Gründe’, die potentiell von allen Mitarbeitern/innen akzeptiert werden können bzw. teilweise bereits implizit vorausgesetzt werden. Die Teilnehmer/innen lernen solche Gründe mit Blick auf ihr jeweiliges Unternehmen kennen.

Für die Evaluation der einzelnen Trainingsdimensionen (Prozeßevaluation) sowie des gesamten Trainings (Produktevaluation) steht eine Reihe von Erhebungsinstrumenten zur Verfügung (zur Produktevaluation vgl. die unter Punkt 8 beschriebene Skala zur Erfassung der passiven argumentativ-rhetorischen Kompetenz). Der Trainingserfolg wird in einem Prä-Post-Vergleich auf reaktiver und spontaner Ebene sowie auf der Ebene verfügbarer Reaktionen erfaßt. Erfolgreiche Teilnehmer/innen sollten nach Abschluß des Trainings besser als vor Beginn des Trainings in der Lage sein, unintegre Beiträge (1) in verschrifteten, mehrmals dargebotenen Argumentationsbeispielen (reaktive Ebene) sowie (2) in mündlichen, einmalig dargebotenen Argumentationsbeispielen (spontane Ebene) zu identifizieren und zu benennen. Darüber hinaus sollten sie (3) ihr Reaktionsrepertoire (Ebene verfügbarer Reaktionen) erweitert und optimiert haben.

Nach einer ersten Erprobung soll das Trainingsprogramm in der nächsten Förderphase 1998/1999 zunächst mit Mitgliedern der Zielgruppe ‘Angehörige des mittleren und gehobenen Managements’ durchgeführt und evaluiert werden. Anschließend ist vorgesehen, die Trainingskonzeption auf breitere Zielgruppen auszuweiten.

Die Anwendung eines derartigen Trainings setzt natürlich voraus, daß Fragen des (un-)integren Argumentierens in der betrieblichen und wirtschaftlichen Praxis in der Tat von Bedeutung sind. Die Fruchtbarkeit des Konstrukts für solche Praxisbereiche konnte in zwei Arbeiten erfolgreich gezeigt werden (Blickle 1994a; Kratzer 1994b). Für den Bereich des Managements konnte herausgearbeitet werden, daß die strukturellen Voraussetzungen für Argumentieren auch in Betrieben, die in charakteristischer Weise Entscheidungs- und Handlungszwängen unterliegen, gegeben sind. Hier können argumentative Diskurse der Qualität von Entscheidungen durchaus zuträglich sein, wobei im Fall von Entscheidungsblockierungen der Diskurs einvernehmlich abgebrochen werden kann. Vor diesem Hintergrund werden Rahmenbedingungen für integres Argumentieren in Organisationen skizziert. Auf der personalen Ebene werden vier Manager-Typen mit je verschiedenen Motivmustern identifiziert, die in Abhängigkeit von diesen Motivmustern je unterschiedlich von einer Übernahme des Wertkonzepts ‘Argumentationsintegrität’ profitieren können. Damit können zugleich auch Möglichkeiten und Grenzen einer Implementierung von Argumentationsintegrität im betrieblichen Kontext aufgezeigt werden. Darüber hinaus wird herausgearbeitet, welche Merkmale einer Organisationskultur einer Verankerung von Argumentationsintegrität als normatives Leitkonzept dienlich, welche Merkmale eher hinderlich sind (Blickle 1994b; 1994c; 1996).

Publikationen

Blickle, G. (1994a). Kommunikationsethik im Management. Argumentationsintegrität als personal- und organisationspsychologisches Leitkonzept. Stuttgart: Metzler & Poeschel.

Blickle, G. (1994b). Ethische Orientierung des Führungshandelns: Führungsethik (Schlußabschnitt). In: Steinmann, H. & Löhr, A. (eds.), Grundlagen der Unternehmensethik. Stuttgart: Schäfer-Poeschel Verlag, 2. überarb. u. erw. Aufl., 199-206.

Blickle, G. (1994c). Psychologische Perspektiven zur Unternehmens- und Führungsethik. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 38, 76-82.

Groeben, N. (1994). Argumentationsintegrität. Psychologisches Wertkonzept - pädagogische Zielperspektive. Carolo-Wilhelmina, Mitteilungen der TU Braunschweig, XXIX, I, 37-44.

Blickle, G. (1996). Argumentationsintegrität: Anstöße für eine reflexive Managementbildung? In: Wagner, D. & Nolte, H. (eds.), Managementbildung. Darmstadt: Luchterhand.

Groeben, N., (1997). Fairness beim Argumentieren – auch in der Politik? In H. Blum & J.P. Meincke (Hrsg.), Universität im Rathaus, Band 7.

Groeben, N, Christmann, U. & Mischo, C. (1997). Die Entwicklung eines Trainings zum Umgang mit unintegrem Argumentieren. Teil I: Forschungsbasis, Grundkonzeption und Dimensionen des Trainings. Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft, 15 (2), 59-76.

Groeben, N, Christmann, U. & Mischo, C. (1998). Die Entwicklung eines Trainings zum Umgang mit unintegrem Argumentieren. Teil II: Beispiele zur Modulkonzeption des Trainings. Sprechen. Zeitschrift für Sprechwissenschaft, 16 (1), 19-31.

Groeben, N. & Christmann, U. (1999). Argumentationsintegrität als Ziel einer Ethik der Alltagskommunikation. Der Deutschunterricht, LI, 5, 46-53.

Mischo, C., Flender, J., Christmann, U. & Groeben, N. (1999). Argumentational integrity: a training program dealing with unfair argumentational contributions. In F.H. van Eemeren, R. Grootendorst, J.A. Blair & A. Willrad (Eds.), Proceedings of the Fourth International Conference of the International Society for the Study of Argumentation. (pp. 586-590). Amsterdam: Sic Sat.

Christmann, U., Mischo, C. & Flender, J. (2000). Argumentational integrity: a training program for dealing with unfair argumentational contributions. Argumentation 14, 339-360.

Groeben, N. & Christmann, U. (2000). Argumentationsintegrität als Zielperspektive einer Ethik der Alltagskommunikation: eine pädagogische Herausforderung. Themenzentrierte Interaktion, 14 (2), 85-92.

Mischo, C., Groeben, N., Christmann, U. & Flender, J. (2001). Konzeption und Evaluation eines Trainings zum Umgang mit unfairem Argumentieren in Organisationen. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie, 46 (3), 150-158.

Groeben, N. & Christmann, U. (2005). Argumentationsintegrität als Zielidee im Rechtssystem?, In Kent D. Lerch (Hrsg.), Recht verhandeln. Argumentieren, Begründen und Entscheiden im Diskurs des Rechts (Die Sprache des Rechts. Studien der interdisziplinären Arbeitsgruppe Sprache des Rechts der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft: Zweiter Band) (S. 155-201). Berlin/New York: de Gruyter.

 

Berichte des SFB 245 und Examensarbeiten

Kratzer, B. (1994). Argumentations(un)integrität am Arbeitsplatz. Eine Explorationsstudie über unintegres Argumentieren im Krankenhaus. Psychologisches Institut der Universität Heidelberg. Unveröff. Diplomarbeit.

Groeben, N., Christmann, U. & Mischo, C. M. (1996). Argumentationsintegrität (XXII): Die Entwicklung eines Trainings zum Umgang mit unintegrem Argumentieren. Bericht Nr. 105. (31 S.).

 


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