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Bemerkungen zur Forschungsstrategie bei der Untersuchung des Komplexen Problemlösens

Bemerkungen zur Forschungsstrategie bei der Untersuchung des "Komplexen Problemlösens"

[geringfügig überarbeitete Version von Kapitel 3.1 aus Funke, J. (1992). Wissen über dynamische Systeme: Erwerb, Repräsentation und Anwendung. Berlin: Springer.]


In der aktuellen Problemlöseforschung (hier ein Überblick über computersimulierte Szenarien aus Untersuchungen) gibt es im wesentlichen zwei Richtungen des Vorgehens bei der Untersuchung des Handelns in Ungewißheit: Die erste - sie wird zum Beispiel von DöRNER, KREUZIG, LüER, PUTZ-OSTERLOH, REITHER, STäUDEL, STROHSCHNEIDER vertreten - zeichnet sich durch den Versuch aus, möglichst realitätsnahe Simulationen zu verwenden. Exemplarisch hierfür ist folgendes Zitat aus der bereits mehrfach erwähnten LOHHAUSEN-Studie:

"Wir schildern in diesem Buch ein Experiment, dessen Ergebnisse und die Interpretation dieser Ergebnisse. In dem Experiment verlangten wir von 48 Vpn, eine kleine Stadt als Bürgermeister 10 Jahre lang zu regieren. Die Stadt 'Lohhausen' lag dabei als Computermodell vor, d.h. sie existierte in gewisser Weise wirklich." (DöRNER et al., 1983, p.17).

Die andere Richtung - durch FUNKE, HüBNER, HUSSY, KLUWE, OPWIS, SPADA, THALMAIER vertreten - ist bestrebt, die eingesetzten dynamischen Systeme mathematisch exakt zu beschreiben, um damit die Möglichkeit für die Festlegung reliabler und valider Gütekriterien zu erhalten (vgl. OPWIS, SPADA & SCHWIERSCH, 1985, p. 6) und mit Systemeigenschaften experimentieren zu können. Auch hierfür wieder exemplarisch ein Zitat: "Um die Güte von Eingriffen von Vpn in die durch Differentialgleichungen beschriebenen Systeme beurteilen zu können und um eine Korrespondenz zwischen dem Lösungsverhalten der Vpn und Eigenschaften der Aufgabenstruktur zu erhalten, ist die Kenntnis von Struktureigenschaften des Problems, etwa in Form von Gewinnlösungen und optimalen Strategien, unabdingbar." (THALMAIER, 1979, p. 388).

Neben diesen unterschiedlichen Meinungen über die einzuschlagende generelle Forschungsstrategie gibt es eine Reihe von Aspekten, die im Detail diskutiert werden müssen. Meine Kritik am bisherigen Vorgehen läßt sich in wenigen Stichworten erläutern:

(a) Die bisherige Forschungsstrategie liefert inkompatible Ergebnisse. Durch die teilweise unzureichende Beschreibung der Simulationssysteme kann nicht darüber entschieden werden, worauf divergierende Ergebnisse (z.B. bezüglich des Prädiktionswertes der Variablen "Selbstsicherheit") zurückzuführen sind. Selbst bei einer hinreichend exakten Dokumentation scheint unklar, welche Systemeigenschaften komplexitätsbestimmende Funktionen besitzen. So stellt sich etwa die Frage, ob das System LOHHAUSEN mit gut 2000 Variablen als "100x komplexer" konzipiert werden darf als das System TAILORSHOP mit gut 20 Variablen, und ob das DORI-System etwa als halb so schwer wie der TAILORSHOP gelten darf, weil es halb so viel Variablen enthält. Es ist festzuhalten, daß die bloße Zahl beteiligter Variablen kein Kriterium für die Komplexität des vorgegebenen Systems darstellt. Auch Kleinsysteme stellen somit sinnvolle Untersuchungsinstrumente dar.

(b) Die bisherige Forschungsstrategie war daten- statt theorienzentriert. Diese Behauptung stützt sich auf die Beobachtung, daß nicht-triviale Vorhersagen über den Umgang mit komplexen Systemen bislang nicht vorliegen. Damit einher geht die Strategie einer Schrotschuß-Datenerhebung, die unterstellt, daß sich etwaige Effekte "irgendwo" niederschlagen, man also nur die Daten zu durchforsten habe, um Hinweise auf relevante Beziehungen zu entdecken. Hier wäre es m.E. ökonomischer, weniger Daten zu erheben und diese Auswahl aus theoretischen Erwägungen heraus zu begründen. Erst eine Theoriezentrierung erlaubt auch den sinnvollen Einsatz experimenteller Methoden.

(c) Die bisherige Forschungsstrategie hat die zentrale Variable "Vorwissen" nicht systematisch kontrolliert. Gerade in den geschilderten, komplexen Szenarios, über die vom Versuchsleiter wenig Vorinformation vermittelt wird, ist "Vorwissen" die für eine Vp zentrale Entscheidungsgrundlage. Von daher mag über das Wohl oder Wehe einer Vp, die etwa den TAILORSHOP steuern soll, deren Vorkenntnis über bestimmte, zu erwartende Variablenbeziehungen entscheiden. Die bereits zu Versuchsbeginn vorliegende mögliche Diskrepanz zwischen objektiver Systemstruktur und einer aus dem Vorwissen abgeleiteten subjektiven Struktur mag für die Bewertung von Vpn-Leistungen eine solidere Basis abgeben als manches bisher verwendete Maß der "Lösungsgüte". ähnlich kritische Bemerkungen kann man der Arbeit von EYFERTH, SCHöMANN und WIDOWSKI (1986) entnehmen. Sie sehen in den computersimulierten Szenarien eine Methode mit Anspruch auf wachsende Einsatzmöglichkeit, die unter Umständen an die Grenzen bedingungsvariierender Methodik stoße. In ihrer Übersicht trennen sie die verschiedenen Arbeiten nach den Untersuchungszielen "Systemdenken", "Wissensrepräsentation" und "Handlungsorganisation". Diese Unterteilung soll kurz skizziert werden.

Unter Systemdenken werden Studien subsumiert, in denen Pbn zur Stabilisierung oder Optimierung in ein "ökologisch valides" System eingreifen sollen. Als ökologische Validität gilt das "Operieren in Bedeutungskontexten ..., die aus alltäglichen sozialen Erfahrungen stammen" (EYFERTH, SCHöMANN & WIDOWSKI, 1986, p. 7). Zu diesen alltäglichen Erfahrungen (an anderer Stelle als "alltägliche komplexe Aktionsfelder" bezeichnet; der Deutlichkeit halber habe ich einige Szenarios eher karikierend skizziert) zählen sie: den autokratischen Bürgermeister, der z.B. über Gemeindefinanzen, Wohn- und Einkommensverhältnisse zu entscheiden hat; die Eingriffe in die Lebenswelt afrikanischer Stämme, die am Rande des Existenzminimums leben; die Bekämpfung ausgebrochener Seuchen (Grippe, Pocken); die Produktionsleitung eines frühkapitalistisch organisierten Betriebs; das absolutistische Herrschen in einem einfach strukturierten Agrarstaat mit dem Ziel, die Zahl der Hungertoten zu minimieren. Für meine Begriffe sind dies alles andere als alltägliche Situationen.

Unter Wissensrepräsentation subsumieren sie Arbeiten, in denen Pbn die einem System zugrundeliegenden Zusammenhänge wiedergeben sollen. Was das Spezifische der Arbeiten unter der dritten Rubrik Handlungsorganisation, im Unterschied zu "Systemdenken" etwa, bedeutet, wird nicht expliziert. Vom methodologischen Standpunkt aus unterscheiden EYFERTH, SCHöMANN und WIDOWSKI (1986, p. 21f.) drei unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Untersuchung des Umgangs mit Komplexität: (1) Variation von Aufgabenmerkmalen ("task environment") im Rahmen experimenteller Pläne; (2) Suche nach differentialpsychologischen Aspekten der Komplexitätsbewältigung und Individualkonstanten der Aufgabenbewältigung bei nicht systematisch variierten Systemen; (3) Konzeption von Komplexität als Merkmal eines subjektiven, veränderlichen Problemraums ("problem space") mit der Absicht, die Erfassung von Problemräumen zu verbessern ("Repräsentationsansatz").

Die dritte Vorgehensweise schlagen die Autoren als alternative Forschungsstrategie in Abgrenzung zu den beiden erstgenannten Ansätzen vor, die sie als reduktionistisch einschätzen. "Wir kritisieren, daß der Umgang mit Komplexität forschungsstrategisch reduziert wird: einerseits mittels strikt experimenteller Strategien auf Systemmerkmale und andererseits mittels differentialpsychologischer Invariantenbildung auf Kompetenzkonzepte. Die Alternative, die wir stattdessen vorschlagen, ist die Konstruktion eines allgemeinpsychologischen mentalen Modells." (EYFERTH, SCHöMANN & WIDOWSKI, 1986, p.23).

Diesem Standpunkt kann ich mich insofern nicht anschließen, als die Konstruktion eines mentalen Modells keine Alternative zum experimentellen Vorgehen darstellen kann. Auch Annahmen über mentale Modelle sollten - sofern sie sich als empirisch gehaltvoll auszeichnen - der experimentellen Prüfung unterzogen werden können. Recht gebe ich EYFERTH, SCHöMANN und WIDOWSKI jedoch in der Hinsicht, daß eine einseitige Konzentration auf System- bzw. Person-Merkmale unzureichend ist. Daß dem subjektiven "problem space" besondere Bedeutung zukommt, ist auch meine Ansicht. Diese Sichtweise führt strenggenommen zu Einzelfallstudien hin (aber natürlich lassen sich auch in Einzelfallstudien experimentelle Bedingungen realisieren, vgl. LEICHSENRING, 1987). Wie wichtig die Betrachtung des Einzelfalls sein kann (vor allem in heuristischer Hinsicht beim Theorie-Entwurf), demonstriert die viel zitierte Arbeit von ANZAI und SIMON (1979): die Theorie des "learning by doing" entstand aus der Detailanalyse eines einzigen Problemlöseprotokolls von 90 Minuten Dauer! Die Prüfung dieser Annahmen steht dagegen bis heute noch aus.

 
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Zuletzt bearbeitet am 30.11.2001 von JF.