Die
Theorie von Mandler
Die
Theorie von Mandler erschien in etwa zum gleichen Zeitpunkt (d.h.
1962-64) wie die von Schachter, vor allem deshalb, weil sie ebenso
wie diese auf dem Experiment von Schachter und Singer aufbaut. Mandler
selbst hat seine Theorie keiner systematischen Prüfung unterzogen.
So
ist es auch nicht verwunderlich, daß Mandlers Theorie der
von Schachter sehr ähnelt. Aufgrund ihrer recht originellen
Begrifflichkeit soll sie hier aber kurz wiedergegeben werden; sie
dient somit nicht zuletzt als gute Verdeutlichung von Schachters
eher abstrakten Vorstellungen.
Die
Theorie: Metapher des Musikautomaten
Mandler
vergleicht die Emotionsentstehung mit einem Musikautomaten: Der
Einwurf der Münze entspricht der viszeralen Erregung. Ohne
Münze keine Musik (Emotion). Die Münze bestimmt nicht,
welche Platte gespielt, sie ist also unabhängig davon (nicht-alltäglicher
Fall bei Schachter). Die Wahl der Platte entspricht also der Kognition
über die auslösende Situation. Die beiden Prozesse sind
aber dann nicht unabhängig voneinander, wenn Erregung und Kognition
vom selben Gegenstand verursacht werden (alltäglicher Fall
bei Schachter).
Mandler
präzisierte diese Theorie in den folgenden Jahren (1962-1975)
schrittweise. Die wichtigsten Erweiterungen betreffen die
folgenden Fragen:
1.
Wie entsteht physiologische Erregung?
Erregung
wird vor allem verursacht durch Unterbrechung organisierter
Handlungssequenzen oder mentaler Strukturen. Daher wird dieser Theorieteil
oft "Unterbrechungstheorie" genannt.
Verändert sich die Umwelt in relevanter Weise, wird das periphere
Nervensystem aktiviert (was Mandler als "biologisch sinnvoll"
ansieht). Zu diesen automatischen Auslösern gehören auch
Gewebeverletzungen.
Doch es gibt auch funktionale Auslöser, also Reize, die ihre
Auslösefähigkeit durch Erfahrung erst erwerben. Beispiele
für funktionale Auslöser sind z.B. bedrohliche Reize wie
Tiere oder Waffen.
Wie Schachter geht auch Mandler davon aus, daß die Intensität
einer Emotion von der Stärke der wahrgenommenen Erregung abhängt.
2.
Wann entsteht welche Emotionsqualität?
Die kognitive Bewertung, die für die Emotionsqualität
sorgt, wird durch eine "Bedeutungsanalyse" gewonnen. Die
Bedeutungsanalyse setzt sich aus individuellen Konstruktionen der
Umwelt und aus Erwartungen zusammen - so Mandler. Da er genauere
Angaben schuldig bleibt, sind diese Überlegungen von eher geringem
Wert.
3.
Wie entsteht eine Emotion?
Eine Emotion entsteht durch Verknüpfung von Erregung und Kognition,
jedoch nicht wie bei Schachter durch einfache Addition, sondern
es entsteht durch (gestaltähnliche) Verknüpfung ein neuartiger
Zustand, nämlich das bewußte Erleben einer Emotion. Dieser
Zustand wird durch "Integration beider Komponenten in übergeordnete
kognitive Schemata" erreicht.
4.
Wie bewußt ist der Prozeß der Emotionsentstehung?
Auslösung
und Rückmeldung der Erregung, Bedeutungsanalyse und Integration
erfolgen unbewußt und automatisch, während die Ergebnisse
dieser Prozesse - nämlich wahrgenommene Erregung, Situationseinschätzung
und Emotion - bewußt sind.
Entstehung
von Angst nach Mandler
Mandler
interessierte sich vor allem für das Entstehen von Angst. Angst
ergibt sich nach Mandler durch Verknüpfung von erlebter
viszeraler Erregung und der Kognition eigener Hilflosigkeit.
Angst entsteht - wie alle anderen Emotionen auch - meist dann, wenn
Handlungen unterbrochen oder Pläne durchkreuzt werden. Die
Unterbrechung führt zu Erregung. Führt die Bedeutungsanalyse
dazu, daß keinerlei Möglichkeit besteht, die unterbrochene
Handlung zuende zu führen bzw. den Plan zu realisieren, fühlt
sich die Person hilflos und erlebt Angst.
Die Handlungsmöglichkeiten und kognitiven Aktivitäten
werden weiter eingeschränkt, indem Gedanken an die Folgen der
Angst und anderes "Nachgrübeln" die volle Bewußtseinskapazität
beanspruchen.
Man
kann also sagen, daß Hilflosigkeit die kognitive Komponente
von Angst ist. Diese Hilflosigkeit ist die Reaktion auf eine spezifische
Situation, d.h. sie ist situationsspezifisch, somit kann mit ihr
auch die Angst von Situation zu Situation schwanken.
Im Gegensatz dazu ist Hoffnungslosigkeit
die Reaktion auf mehrere Situationen, in denen allen die Person
nicht weiß, was sie machen soll. Die Emotion, die sich aus
der kognitiven Komponente Hoffnungslosigkeit ergibt, kann man als
generalisierte Angst oder auch "Depression" bezeichnen.
Anwendung
auf zwischenmenschliche Beziehungen
Berscheid
(1982) wandte Mandlers Theorie auf Emotionen in engen zwischenmenschlichen
Beziehungen an. Nach Berscheid gibt es zwei Arten solcher Beziehungen:
enge und parallele.
Enge Beziehungen haben viele kausale Wechselwirkungen, d.h.
die Handlungen, Pläne und Erwartungen der Personen beeinflussen
einander. Parallele Beziehungen haben wenig kausale Wechselwirkungen.
Bei beiden Beziehungen treten nach Berscheid im Alltag wenig (!)
Emotionen auf, sie haben jedoch ein unterschiedlich hohes Emotionspotential:
Wenn nämlich in engen Beziehungen sich ein Partner verändert,
hat dies - anders als in parallelen - für den anderen viele
Folgen, die dann auch wieder auf den ersteren zurückwirken.
Diese Veränderungen verursachen - so ja Mandlers Theorie -
die physiologische Erregung, die zu Emotionen führt. Vor allem
nach dem Tod eines Partner treten also sehr starke Emotionen auf,
die es so in parallelen Beziehungen nicht gibt.
Nach
diesen nicht uninteressanten Exkursen in etwas praxisnähere
Gebiete der Emotionspsychologie wollen wir uns zum Abschluß
dieser Kapitels noch einmal einer ebenso grundsätzlichen wie
wichtigen Frage zuwenden: Müssen wir die Annahme aufgeben,
peripher-physiologische Erregung spiele bei der Emotionsentstehung
irgendeine Rolle?
|