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SMT-Manual: Kapitel 1

1 Einleitung

Die gegenwärtige neuropsychologische Diagnostik höherer exekutiver Funktionen befindet sich in einem Umbruch. Waren in der Vergangenheit Störungen dieser exekutiven Funktionen infolge meist präfrontaler Ausfälle zu diagnostizieren, wurden traditionellerweise Verfahren zum Einsatz gebracht, die man drei großen Verfahrensklassen zuordnen kann: (1) Türme, (2) Karten oder (3) Labyrinthe. Auf alle drei soll kurz eingegangen werden.

Die Klasse der "Turm-Verfahren" ist durch den "Turm von Hanoi" und seine neuropsychologischen Varianten des "Tower of London" (Shallice, 1982) bzw. "Tower of Toronto" (Saint-Cyr & Taylor, 1992) markiert, die auf der Grundlage allgemeinpsychologischer Vorstellungen an abstraktem Material den geordneten Denkverlauf überprüfen sollen. Aufgabe der Testperson ist es, einen Stapel unterschiedlich großer Scheiben von einem Startstab auf einen Zielstab zu bewegen unter Verwendung eines Zwischenstabes. Dabei darf immer nur eine Scheibe bewegt werden und nie darf eine größere Scheibe auf eine kleinere gelegt werden. Zur Lösung dieser Aufgabenstellung mit optimaler Zugzahl ist vorausschauende Planung notwendig.

Die Klasse der "Karten-Verfahren" ist im wesentlichen durch den "Wisconsin Card Sorting Test" (WCST) und seine Varianten markiert, der erstmals von Berg (1948) zur Diagnostik kognitiver Flexibilität vorgeschlagen wurde. Hierbei geht es darum, aus einer vorgegebenen Menge richtiger bzw. falscher Exemplare ein zugrundeliegendes Konzept zu extrahieren und die einmal gebildete "Einstellung" wieder aufzugeben, wenn sich das Konzept ändert. Zu diesem Zweck wird der Testperson nacheinander eine der insgesamt 60 verschiedenen Karten vorgelegt, auf denen ein bis vier Symbole (Dreieck, Kreis, Kreuz, Stern) in einer von vier Farben (rot, grün, gelb, blau) erscheint. Diese Karte ist je nach dem gesuchten Konzept auf einen von vier möglichen Stapeln zu plazieren: ein rotes Dreieck, zwei grüne Sterne, drei gelbe Kreuze, vier blaue Kreise. Wenn z.B. das Konzept "Farbe" gilt, muß die Testperson eine rote Karte auf den Stapel mit dem einen roten Dreieck legen, unabhängig davon, um welches Symbol es sich handelt oder wieviel Symbole auf der Karte sind. Die Person erhält über ihre jeweilige Sortierentscheidung nur die Antwort "richtig" oder "falsch" und muß dadurch auf das gesuchte Konzept kommen. Nach zehn korrekten Plazierungen wechselt der Testleiter das Konzept.

Die Klasse der "Labyrinth-Verfahren" geht auf die Arbeiten von Porteus zurück (vgl. seinen Rückblick auf 50 Jahre Forschung in Porteus, 1965) und verlangt von Patienten das Durchlaufen durch ein teilweise verdecktes Labyrinth, das von den Versuchspersonen wiederholt bearbeitet wird (vgl. z.B. Karnath, 1991; Milner, 1965). Erfaßt werden hiermit bestimmte Aspekte räumlicher Orientierung bzw. visueller Vorstellung, die in Verbindung mit bestimmten Versuchsanordnungen auch weiterreichende Aussagen über das Verhalten in Routine- bzw. Nicht-Routinesituationen erlauben. Sowohl hinsichtlich äußerer Leistungsmerkmale wie z.B. Geschwindigkeit als auch hinsichtlich spezifischer Symptome (Regelverletzungen, perseveratives und repetitives Verhalten) zeigen sich allerdings Befundmuster, die keinesfalls eindeutig sind. Planungsprozesse werden hier auch nur in einer semantisch und kontextuell stark reduzierten Umwelt erfaßt.

Allen drei Verfahrensklassen kommt eine vergleichbare Kritik zu: Zwar werden mit diesen Verfahren klar Denkprozesse angestoßen, allerdings bewegen sich diese auf einem völlig abstrakten Niveau und ermöglichen in keiner Weise das Einbringen von Weltwissen oder die Berücksichtigung kontextueller Gegebenheiten, von deren enormer Bedeutung für die alltägliche Handlungsorganisation ausgegangen werden kann.

Insgesamt gesehen muß der Status gegenwärtiger Diagnoseverfahren im Bereich höherer kognitiver Funktionen als unbefriedigend angesehen werden (vgl. auch die Ausführungen in Chap. 15 und 16 von Lezak, 1995). Die gilt im übrigen, wie Fritz und Funke (1995) in ihrer Übersicht zu vorliegenden Verfahren zur Planungsdiagnostik zeigen, nicht nur für den Bereich der Neuropsychologie, sondern durchaus auch im Bereich der Entwicklungsdiagnostik und dem der Diagnostik von Führungskräften.

Wir wollen nachfolgend unsere grundlegenden Vorstellungen über eine gedächtnispsychologisch fundierte Zugangsweise zum Konstrukt der "Planungskompetenz" darlegen. Daher beginnen wir unsere Arbeit in diesem Kapitel mit einer kurzen Darstellung unserer theoretischen Grundlagen und der Konzeption des Verfahrens, bevor dann weitere Kapitel Details der Konstruktion, Durchführung und Auswertung beschreiben.

1.1 Theoretische Grundlagen

Auf der Grundlage gedächtnispsychologischer Überlegungen soll die Planungsfähigkeit in enger Verbindung zum Vorhandensein und zur Abrufbarkeit sogenannter "Skripts" untersucht werden. Danach beruhen die grundlegenden, bei der Planung und der Durchführung einer Handlung gemäß eines Plans notwendigen Funktionen auf verfügbarem Wissen über die logische Abfolge und zeitliche Struktur einer Handlung. Vor dem Hintergrund des verfügbaren Handlungswissens können zum einen einzelne Sequenzen der Handlung in Hinblick auf eine erfolgreiche Durchführung des Plans als korrekt oder fehlerhaft beurteilt werden; zum anderen können einzelne ungeordnete Sequenzen in eine logisch notwendige und zeitlich korrekte Struktur überführt werden.

Die gedächtnispsychologische Forschung über Skripte geht auf alte schematheoretische Überlegungen zurück, wie sie in den 30er Jahren erstmals von Bartlett (1932) in bewußter Abgrenzung von der kontextfreien Gedächtnisforschung sensu Ebbinghaus konzipiert wurde. Eine spezielle Klasse dieser Schemata, die unsere Informationsaufnahme und -verarbeitung in gravierender Weise beeinflussen, stellen Skripte dar: Sie repräsentieren Wissen über bestimmte wiederkehrende und stereotyp ablaufende Ereignisfolgen. Einen Überblick über die hierzu vorliegenden Theorien und Befunde gibt die Arbeit von Vaterrodt (1992). In der Vergangenheit haben sich die meisten Arbeiten aus dem Bereich der Skriptforschung mit den Effekten solcher Repräsentationen auf die retrospektive Gedächtnisleistung bezogen. Es sollte also geklärt werden, inwiefern bestimmte Schema- und Skript-Informationen die Erinnerung an Vergangenes beeinflussen. In unseren eigenen Vorstellungen gehen wir davon aus, daß Schema- und Skript-Informationen besonderen Einfluß auf die prospektive Gedächtnisleistung nehmen. Dies bedeutet: Wenn der aktiv handelnde Mensch mit einer Anforderung konfrontiert wird, die seine eigene Handlungsregulation betrifft, wird diese Anforderung am ökonomischsten unter Heranziehung bisheriger Erfahrungen mit ähnlichen, vergleichbaren Situationen bewältigt. Mit anderen Worten: Für die planende Vorausschau eigenen Handelns erweisen sich die Erinnerungen an vergleichbare Situationen als wesentliche Planungshilfen. Die Verfügbarkeit differenzierten Skriptwissens sollte somit das Planen und Handeln in unbestimmten Situationen erheblich fördern und unterstützen.

In der neuropsychologischen Literatur wird die Fähigkeit, zu planen und Absichten in der Zeit bis zum Erreichen des Ziels zu verfolgen, in enge Verbindung mit den Funktionen des Frontallappens gebracht (vgl. von Cramon, 1988; von Cramon & Matthes-von Cramon, 1993). Bei Patienten und Patientinnen mit Frontalhirnläsionen sind entsprechend häufig eine starke Beeinträchtigung dieser komplexen psychischen Funktion und vielfältige Folgeprobleme zu beobachten. In einem aktuellen Übersichtsartikel stellt Grafman (1995) die verschiedenen theoretischen Ansätze vor. Aus der kritischen Durchsicht dieser Modellvorstellungen entwickelt Grafman seine eigene Konzeption, wonach im präfrontalen Bereich ein eigenständiges Repräsentationsformat zu vermuten sei, das er "structured event complex" nennt und zu dem insbesondere sog. "managerial knowledge units" (MKU) einen bedeutsamen Anteil beitragen. Mit einem MKU ist aber nichts anderes gemeint als das Skriptwissen über eine bestimmte Ereignisklasse (vgl. Grafman, 1989). Störungen im präfrontalen Cortex sind nach Grafmans Einschätzung vor allem Störungen im Skriptwissen. Diese Vorstellung ist ebenfalls eine unserer Leitideen.

1.2 Konzeption des Verfahrens

Wenn es so ist, daß die Fähigkeit zu planen nicht einfach der allgemeinen Konzentrationsleistung, der Intelligenz oder dem Problemlösen subsumiert werden kann, sondern hier eine spezifische Störung des Rückgriffs auf im Gedächtnis gespeichertes, zugleich alltagsnahes und doch für vielfältige Situationen genügend abstraktes Handlungswissen vorliegt, dann ist es notwendig, Störungen der Planungsfähigkeit nicht mit abstrakten Aufgaben, sondern mit genügend alltags- und praxisnahem Material zu untersuchen.

Die Anwendung der Videotechnologie bietet hier einige hervorragende Vorteile, sowohl gegenüber einer individuellen Testung in vivo als auch gegenüber einer ausschließlichen Testung abstrakter Funktionen:

  • In relativ kurzer Zeit kann die Planungsfähigkeit anhand einer ganzen Bandbreite von verschiedenen Handlungen standardisiert untersucht werden.

  • Der Aufwand gegenüber einer klinisch-individuellen Testung in vivo ist deutlich geringer, wenngleich eine solche Prüfung im Einzelfall sich gerade durch den Test als sinnvoll erweisen könnte.

  • Die Planungsleistung frontalhirngeschädigter Patienten in der Konfrontation mit alltagsnahem Material wird über den Einzelfall hinaus weiterer wissenschaftlicher Analyse zugänglich.

  • Von besonderem Interesse ist die Frage, wieweit Planungsdefizite handlungsspezifisch auftreten.

  • Die Motivation der Betroffenen wird eher angesprochen durch Material, dessen Alltagsrelevanz unmittelbar erlebbar ist, als durch alltagsfernes Aufgabenmaterial.

    Vor dem Hintergrund dieser hier nur knapp skizzierten Überlegungen haben wir zu Beginn der 90er Jahre eine Pilotversion des "Skript-Monitoring-Test" entwickelt (vgl. Funke & Grube-Unglaub, 1993; Grube-Unglaub, 1992). In dieser Pilotversion, die das Skript "Kaffee kochen" zum Gegenstand hatte, wurden die grundlegenden Anforderungen an die Testperson aufgrund sachlogischer Erwägungen festgelegt. Diese Anforderungen, die der Patient für jede Szene zu bearbeiten hat, beziehen sich auf die drei Dimensionen "Planüberwachung" (PÜ), "Fehlerdiagnostik" (FD) und "Abfolgen erkennen" (AE). Diese werden weiter unten genauer beschrieben.

    Alle drei Anforderungen sind Bestandteil eines umfassenderen handlungstheoretischen Modells zum Ablauf von Planungs- und Problemlöseprozessen (vgl. hierzu die ausführlichen Darstellungen bei Funke & Fritz, 1995). Mit Beginn der Projektförderung durch die DFG wurde es uns möglich, über die Pilotversion hinausgehende Verfilmungen von alltagsnahen Skripten zu realisieren. Wir schildern im nächsten Kapitel zunächst die im Rahmen der Entwicklung vorgenommenen Schritte, bevor dann in einem späteren Teil Details zur Durchführung und Auswertung der Kurzversion des Verfahrens gegeben werden.

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